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die kleinen bilder

Harry Meyer „Die Kleinen Bilder“

von Gode Krämer

Emanuel Braun hat in seinem vorzüglichen Einführungstext im Katalog zur Ausstellung „Im Dialog. Harry Meyer im Domschatz- und Diözesanmuseum Eichstätt“, 2007, Seite 6, Harry Meyers malerische Arbeitsweise mit folgendem Satz wunderbar klar charakterisiert: „Er beginnt erst ein Motiv zu malen, wenn er es für sich völlig erobert hat, wenn er es so verinnerlicht hat, dass es in seinem inneren Auge erscheint.“ Diese Beobachtung gilt natürlich für das gesamte Schaffen Meyers, doch ist sie besonders wichtig, ja entscheidend im Hinblick auf die „Kleinen Bilder“. Denn nur so ist die unglaubliche Sicherheit zu verstehen und zu erklären, mit der auf kleinem, ja kleinstem Rechteck mit breitem Pinsel und bis zu 2–3 cm hohem pastosen Farbauftrag Landschaften und Naturereignisse in vollendeter Komposition entstehen.

Die Spannweite der in den Jahren 1997–2007 entstandenen Bil­der, die hier dokumentiert sind, reicht von klar erkennbaren dramatischen realistischen Landschaften bis zu den aus den größeren Bildern bekannten Themen der „Regenbilder“ oder „Energie­bilder“, die dann allerdings, in diesem kleinen Format verwirklicht, mitunter nahezu abstrakt wirken. Die „Kleinen Bilder“ laufen parallel zum übrigen Schaffen Meyers, d. h. die Motive, die ihn im Laufe der Jahre in seinen großen Bildern beschäftigten, tauchen gleichzeitig oder zeitversetzt auch in den „Kleinen Bildern“ auf: Berge, Bäume, Regen, Energie.

Dennoch, und das ist wichtig festzuhalten: Weder wiederholen die „Kleinen Bilder“ größere Kompositionen, noch sind sie Entwürfe für größere Bilder. Die „Kleinen Bilder“ sind eine ganz eigene Kunstform. Um einen Begriff von der motivischen und malerischen Unter­schiedlichkeit zu geben, möchte ich zunächst drei Bilder beschreiben, zwei aus dem Jahr 2006, eines 2004 entstanden. Das erste ist das auf Seite 49 abgebildete aus dem Jahr 2006 mit dem Titel „Wald“. Es scheint leicht zu beschreiben, erscheint es doch realistisch gemalt wie eine Landschaft aus dem 19. Jahrhundert. Drei kahle Baumstämme ragen in deutlicher Tiefenstaffelung nach links hinten stehend aus dem dunklen Erdreich in die bläulichweiße Himmelszone und werden oben vom Rand abgeschnitten. Während die Stämme selbst in dünnem Farbauftrag ge­strichen sind, sind ihre Wurzeln, dick und pastos aufgetragen, mit dem Erdreich verwachsen: Man wird darüber stolpern, wenn man nicht aufpasst. Die Farben der Stämme – rot mit dunkelblauer Mitte rechts, gelb der mittlere und graugrün der hintere – ziehen sich in das Erdreich – oder auch umgekehrt; jedenfalls liegt unter dem bläulich-blassen Himmel der Vordergrund in dunkleren, ganz natürlich erdigen Farben. Ebenfalls wie ein Pendant des pastos aufgetragenen Wurzel-Erde-Gemenges unten rechts ballt sich oben links eine ebenso dick gemalte weiße Wolke mit dunkelblauen und grauen Rändern gefährlich zusammen. Das zweite Bild, das auf Seite 46 abgebildet ist, ebenfalls aus dem Jahr 2006, ist ungleich schwerer zu beschreiben. Sein Titel „Schlucht“ weist vielleicht einen Weg zu einer interpretierenden Beschreibung. Denn links scheinen aus einer steil ansteigenden Erdwand aus grünlichen und rötlichen Tönen ebenso zwei Baum­stämme aufzuwachsen wie rechts aus dem zur Mitte hin abfallenden Abhang – farblich geteilt in eine hellere obere und eine dunklere untere Hälfte – weitere Stämme. Dazwischen in der Mitte, dort, wo die nicht einsehbare Schlucht zwischen Wand und Ab-hang endet, wächst ein breiterer Stamm empor. So könnte man, durch den Titel beeinflusst, das Bild sehen. Doch tatsächlich bewirken diesen Eindruck allein die Baumstämme und der deutliche Keil in der Mitte des Bildes, aus dem der breite Stamm wächst. Dagegen herrscht im unteren Bildteil, dort, wo der Eingang zur Schlucht hinter dem gelben, von links einführenden Weg sich öffnen sollte, das reine Farbchaos. Hier ballt sich, wieder dick und pastos aufgetragen, ein Farbstrudel zusammen, in den die Farben aus beiden Bildhälften zusammenfließen und aus dem sich die fast figürlich wirkende gelbe Farbmasse unten löst. Verbindet man den Versuch einer Beschreibung des Bildes als reale Schlucht mit der reinen Farbbeschreibung, so wäre eine Interpretation möglich: Die Schlucht, der Hohlweg als Ort der Gefährdung, der Gefahr. Auch das auf Seite 34 des Kataloges abgebildete Werk aus dem Jahr 2004 – ein Bild, das für die kleine Fläche von 21 x 20 cm mit unglaublichen Farbmassen geradezu hochreliefartig gemalt ist –, erschließt sich aus dem Titel: „Feuer“. Auf den behutsam aber rasch aufgetragenen Schichten von dunkel gemischter Ölfarbe, die sich aus der Fläche der Leinwand hochwölbt, liegt an vielen Stellen als letzte Schicht ein leuchtendes, loderndes Rot, das sich von unten nach oben, aber auch von oben nach unten flackernd zu bewegen scheint. Ausgangspunkt ist die dunkle untere Ecke links, aus der in zwei Strängen – nach links oben noch unterdrückt mit gelblichgrüner Färbung, nach rechts oben in schon entzündetem Rot – die Flammen Nahrung erhalten. Oben, vom Rand des Bildes beschnitten, beginnt das Feuer hell zu lodern. Wer den faszinierenden Anblick des Feuers kennt, dieses unentwegt verlöschende und wieder ausbrechende Glühen, die plötzlich aus dem Dunkel des Grundes irgendwo und nicht vorhersehbar auflodernden Flammen, der wird in diesem Bild eine überaus realistische Darstellung dieses Phänomens erkennen.

Natürlich war die Wahl dieser drei Bilder bedacht, um die Spannweite von einer realistisch anmutenden Landschaft zu einem nahezu abstrakt erscheinenden Bild, das sich erst durch den Titel erschließt, zu dokumentieren. Allerdings wären aus der Fülle der Bilder im vorliegenden Katalog genügend ähnliche Beispielreihen auszuwählen gewesen, die dann bei anderen Motiven zu ähnlich beschreibenden Interpretationen geführt hätten. Denn allen Bildern der Serie „Kleine Bilder“ – und das gilt auch für die gesamte Landschafts- und Naturmalerei Harry Meyers – liegen zwei durchgehende Komponenten zu Grunde: Eine inhaltliche und eine formal-gestalterische. Die inhaltliche Komponente wurde schon angedeutet: Harry Meyer geht es nicht um die Darstellung der Landschaft, der Natur an sich, sondern um ihre Ausdeutung, um seine Deutung ihrer elementaren Macht. Selbst in dem zuerst beschriebenen realistischen Bild wölbt sich der Boden im Vordergrund auf und bildet sich am Himmel eine bedrohliche Wolkenformation. Alle seine Land­schaften sind expressiv, ja explosiv. Seine Intention verdeutlichen nicht nur die Titel, z. B. „Wind“ (S. 30, aus dem Jahr 2003), „Sturm“ (S. 21 aus dem Jahr 2000, S. 40, S. 41, 2005), sondern auch die elementare Wucht, mit der der Künstler etwas Immaterielles wie die aufgepeitschte Atmosphäre als ganz konkrete Form in Farbe gefasst zur Erde herab stürzend darstellt.

Dieses Wagnis, das uns ständig umgebende Immaterielle wie Licht, Energie, Luft ganz realistisch darzustellen, ist überhaupt die große innovative Leistung Harry Meyers. Für die Darstellung der Energie (S. 29 der Block von neun Bildern „Land Energie“ aus dem Jahr 2003, S. 33, 2004) hat er, wohl ausgehend von den materiell erfahrenen und gemalten Regengüssen, eine eigene Ikonographie gefunden: Ein vielbeiniges Wesen, das die Erde überzieht und seine Schöpferkraft – positiv oder negativ – in langen Bahnen herabfließen lässt. In einem besonders ausdrucksstarken Bild (S.48, 2006) hat er dem „Licht“ Ausdruck und materielle Gestalt gegeben. Jeder kennt das überraschende und beglückende Phänomen, wenn sich plötzlich und nur sekundenlang andauernd aus den Wolken ein Lichtstrahl ergießt. Diesen Strahl hat er in seinem Bild materialisiert mit einer derartigen Farbenpracht und pastos aufgetragenen Farbenmasse, als habe sich das Licht als Farbe manifestiert. Selbst ein so hinreißend schönes Bild – in meiner Sicht – wie „Land“ (S. 49 aus dem Jahr 2006), mit dem wunderbar weiten, gelben Himmel, der über die in Orange und Grün gefärbte Landschaft fegt, erhält etwas Beängstigendes, bedenkt man, dass das Bild nur einen Ausschnitt zeigt, und wie es wäre, wenn der ganze Himmel eine so ungewohnte, unnatürliche Färbung annähme. Oder auch der „Apfelbaum“ (S. 44, 2006 ) – wieder ein sehr realistisches Motiv – steht bedrohlich schief und stemmt sich mit aller, fast scheint es, nicht ausreichender Kraft gegen Wind, Wetter und Wolken, weil auch der aufgewühlte Boden, in dem er wurzelt, abgleitet, denn die gelbe Erde, deren Farbe sich in den Spitzen des Baumes widerspiegelt, scheint nach unten herabgeschwemmt zu werden. Besonders die Bäume, die in der abendländischen Kunstgeschichte eine so bedeutende Rolle spielen als hoheits­volles, hochragendes, beschützendes, dem Sturm trotzendes Symbol – von den Darstellungen ihrer Lieblichkeit, Schönheit ganz abgesehen – sind in Harry Meyers Landschaften von der Gewalt der Natur zerzaust, gebeugt, ihrer Pracht beraubt. Häufig ragen nur noch ihre Stämme ein Stück empor, ehe sie vom Bildrand abgeschnitten werden wie in der beschriebenen Land­schaft (S. 49, 2006, oder S. 35, 2004, S. 40 und S. 43, 2005). Wenn Meyer sie in ganzer Gestalt darstellt, wie in den beiden großartigen, ganz unterschiedlichen Bildern aus dem Jahr 2000 (S. 22, S. 24), so nicht in ausladender runder, breiter Form, sondern in schmalem Umriss, schräg stehend, fast fallend, geschüttelt vom Sturm oder ruhig stehend, nach dem Unwetter. Nun zur gestalterischen Komponente in Meyers Werk, die sich in den „Kleinen Bildern“ leichter nachvollziehen lässt. Harry Meyer komponiert seine Bilder bewusst oder unbewusst so, dass der Mittelsenkrechten eine tragende Rolle zukommt. In den am Anfang beschriebenen Bildern „Schlucht“ (S. 46) gibt der mittlere Baumstamm die Mitte des Bildes an, beim „Wald“ (S. 49) der dünne mittlere Stamm, beim „Feuer“ (S. 34) ist es ziemlich genau die Stelle am oberen Rand, wo sich im Durchblick der blaue Himmel mit der roten Flamme des Feuers trifft. Diese Koordinationslinie findet sich deutlich oder nur angedeutet, mitunter in direktem Bezug zum oberen Rand, mitunter irgendwo im Bild auf der Mittelsenkrechten ausgedrückt durch einen besonders auffallenden Farbpunkt oder durch den Schnittpunkt von Linien – häufig genau im Schnittpunkt der Diagonalen – in allen Bildern. In direktem Zusammenhang mit der senkrechten Teilung der Bildfläche steht die horizontale Teilung und der gemeinsame Schnitt­punkt, in dem sich die Diagonalen treffen, die Mitte des Bildes. Es handelt sich dabei nicht um eine mathematische Systematik, sondern vom Künstler aus um eine unbewusste oder auf der Erfahrung beruhende ästhetische Einteilung der Bildfläche, deren Exaktheit er in der und mit der Malerei überspielt, die ihm jedoch die Sicherheit einer ausgewogenen Komposition im jeweils gewählten Bildformat gibt.

Denn hinzu kommt noch etwas anderes, die „Kleinen Bilder“ Betreffendes: Eine geradezu unfassbare Sicherheit der Pinselführung im flächigen, aber auch dreidimensionalen Bereich. Wenn man seine großen, größeren, ja gewaltigen Formate kennt mit ihren breiten, langen, häufig die Komposition bestimmenden Pinselstrichen, so kann man sich kaum vorstellen, wie er diese außerordentliche Explosivität auf das kleine Format übertragen kann. Er wählt dazu, wenn ich das richtig sehe, seit etwa 1998/99 den Ausweg in die Drei­dimensionalität, eine Technik, die er bei seinen kleinen reliefhaften Köpfen anwandte. Dadurch gewinnen seine „Kleinen Bilder“ eine unvergleichlich stärkere Ausdruckskraft an Realität. Der Betrachter sieht nicht mehr nur die gemalte Natur, sie wird vor seinen Augen plastisch. Er gleitet mit seinen Augen, ja mit seinen Sinnen Anhöhen empor, erspürt die Wölbung der Wolken, ertastet Oberflächen und meint, über Wurzeln zu stolpern, wie ich am Anfang schrieb.