Über tanzende Sterne, oder: Harry Meyers Sternenbilder

von Konrad Oberländer

Ich denke, daß ich Harry Meyer hier nicht vorstellen muß. Und ich denke auch, daß ich auch über seinen Malstil keine weiteren Ausführungen machen muß. Das alles hat für Sie einen Bart, Sie wissen das alles längst, sie kennen seine Bilder, die Streuwiesen, die blauen Himmel mit den weißen Wolkenbündeln oder -streifen, die gelben Felder, die weiten Horizonte, die plötzlichen Ausbrüche der Himmel, Blitz und Regen und Donner, aber immer auch das unverhoffte Aufblitzen der Sonne nach all den Gewalten, das raumweitende Weiß des Schnees. Die vom Wind gebeutelten Bäume und der Blick in die Tiefe der Erde. Sie kennen das alles. Deswegen will ich Ihnen darüber auch garnicht reden.

Erzählen will ich vielmehr heute davon, daß Harry sich nun vorgenommen hat, sich und uns den Himmel zu zeigen, uns von Bildern zu berichten, die ihm zuletzt erschienen sind, ja, daß er uns ein (Stern)Bild ans Himmelsgewölbe hängen will, uns eine Stunde bereiten will, in der wir mit ihm die Grenzen der wirklichen Welt weit überschreiten können. Er will uns den Weg lehren, der zu den Sternen führt.

Nach Meyers Neuem Lexikon (der Meyer ist nicht verwandt und auch nicht verschwägert mit unserem Meyer) ist Stern eine Bezeichnung für jedes leuchtende Objekt an der Himmelssphäre (mit Ausnahme des Mondes). Man unterscheidet Wandel-Sterne, Planeten und Fix-Sterne, die ja die Sterne in einem engeren Sinne sind. Meist sind das sehr große, aus sich selbst leuchtende Gaskugeln hoher Temperatur. Die Mehrzahl der Sterne ist unserer Sonne im Aufbau, in der Masse und der Dichte, sowie in der Energieerzeugung recht ähnlich. Es gibt daneben aber auch extreme Sterntypen, z.B. Riesen, Überriesen, Unterzwerge und weiße Zwerge, Neutronen-Sterne und schwarze Löcher, die noch ein wenig hypothetisch sind, weil sie noch keiner gesehen hat. Auch die Sternentstehung und der Sternentod sind noch weitgehend ungeklärt. Soweit, natürlich nur auschnittweise, Meyers Neues Lexikon.

Die Erforschung des Universums ist nunmehr also Harrys Anliegen. Dabei betreibt er eine Art von Stellardynamik. Nicht mehr als Einzelindividuen sieht er die Sterne, sondern sozusagen als Teil einer statistischen Menge, wobei er uns jedoch nicht erkennen läßt, ob er da galaktische oder gar extragalaktische Sterne anhäuft. Darüber läßt er uns einfach im Unklaren. Er zeigt uns aber nachdrücklich, daß in jenen Tiefen, die sonst leer wären, in Wahrheit ein großes Schauspiel abläuft. In Wahrheit, sagt er uns, sind die dicht gestreuten Lichter am Firmament in einem nicht enden wollenden Fluß, und die Sterne sind natürlich Geheimzeichen an die Dämonen der Nacht, und die Sternenwelt ist keineswegs eintönig, vielmehr betreibt sie einen ganz gewaltigen Aufwand. Das alles zeigt er uns mit Nachdruck in seinen Bildern.

Auf dem großen, an der Stirnseite des Raumes hinter mir, tummeln sich erkleckliche Sternenhaufen über die ganze Breite des Bildes. Die Intensität der Sterne verläuft vom tiefstem Rot, über Orange, bis hin zu wenigen Helligkeiten in leuchtendem Gelb. Ein ungeheuerlicher Wirbel, eine wilder Tanz von Sternen, ein Wirbeltanz in den Winden der Sonnen. Gebündelter Ablauf der Zeit, Lichtjahre im Zeitraffer. Licht, körperhaft gebündelt, Energien, über jegliche Vorstellung hinaus, jedenfalls ein himmlisches Großfeuer, jedenfalls ein Hexenkessel von Sternen, massenhafte Feuergarben, der Blick ins Zentrum einer Galaxie vielleicht, jedenfalls kein erkennbarer Horizont. Daß Harry hier ein bißchen tanzt und herumwirbelt, ist ganz in Ordnung, das haben wir zwischenzeitlich gelernt. Zu ergänzen ist noch, daß in Lücken zwischen den Sternen gelegentlich, so als rufe da jemand von ganz weit her, Fetzen der dunklen Himmelsdecke hindurch brechen.

Auf anderen Bildern -immer geredet natürlich über Sternenbilder- gibt es auch stark schwankende Helligkeiten, Sternenverknotungen, Sternschwänze, die sich, so ist zu erahnen, neben den Bildern ohne Ende fortsetzen, die sich mal mehr, mal weniger zusammen schließen, und es gibt auf manchen Bildern auch Andeutungen von Landschaften und Horizonten, über denen ein zarter Schimmer von Licht liegt, das wie Diamantensplitter die Grate der Furchen und die Ränder der Gräben zuckert.

Lassen Sie uns doch auf einen dieser Sterne fliegen, vielleicht auf den ganz am linken Rand auf dem großen Bild, vielleicht führt er uns nach Atlantis, das noch keiner von uns gesehen hat, lassen sie uns der Stille des Raumes ausliefern, dem ungeheuren Schweigen, das selbst die Grillen verstummen läßt. Lassen Sie uns doch auf einen dieser Sterne fliegen.

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