Die Poetik der Kälte

von Brigitte Herpich

„Hiberna“ nennt Harry Meyer seine jüngst entstandenen Ölgemälde: das „Winterliche“, das „Kalte“. Nun kann man Kälte oder Frost zweifellos empfinden; der Sprachgebrauch belegt sie mit geradezu aggressiven Attributen, wie schneidend, eisig oder grimmig, welche allesamt die Lebensfeindlichkeit assoziieren, die ihnen – im Gegensatz zur angenehm lindernden Kühle – zumindest in den nördlichen Klimazonen zugeschrieben wird. Man kann also die Kälte beschreiben – aber kann man sie auch malen? In der Hinwendung zu Harry Meyers „Hiberna“-Bildern scheint sich diese Fragestellung zu bejahen.

Fest gefroren wirkt die Oberfläche der Erde, wie erstarrtes Metall oder im Flusse erhärteter Stahl, nur oberflächlich von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die das Starre mehr enthüllt als verbirgt: Der Schnee geht, die Kälte bleibt; die konzentrierten und vereinten Kräfte des Wassers und des Frostes können selbst den Stein zerbrechen, der spröde wird wie Glas, und klirrend zerschellt. Zerbrechlichkeit überhaupt kennzeichnet Meyers „Hiberna“ – die Erde, einsam in der Kälte des Alls schwebend, jeden Schutzes entkleidet. Die Worte des finnisch-schwedischen Dichters Henry Parland (1908 – 1930) schleichen sich dem Betrachter in den Sinn, auf dieselbe Art und Weise, wie die Kälte in Meyers Bildern uns angreift: wenn wir sie erst spüren, hat sie uns bereits unentrinnbar im Griff: „Das Licht ist immer dünner geworden / ist bald / nur noch ein Widerschein / flatternd / wie ein zerrissener Traumschleier / vor dem übernächtigten Antlitz der Erde.“ Müde ist sie geworden, die Erde; sie scheint keine Kraft mehr zu besitzen; träge, geradezu teilnahmslos, scheint sie sich dem Zugriff der winterlichen Kälte, des starren Frostes, zu überlassen, ihre Ruhe einer Grabesruhe ähnlich

Noch einmal die eingangs gestellte Frage aufgreifend, ob man Kälte nicht nur beschreiben, sondern auch malen könne, ist es im Hinblick auf Harry Meyers „Hiberna“-Bilder nun an der Zeit, auf eine zunächst unwesentlich erscheinende, jedoch grundlegende begriffliche Unterscheidung hinzuweisen: Harry Meyer malt nicht die Kälte, er malt das Kalte! Allein der Genuswechsel vom Femininum zum Neutrum verdeutlicht den Prozeß der Abstraktion, welcher eine Witterungsbedingung in ein Symbol transferiert, in eine Metapher. Führt man sich nun vor Augen, daß Metaphern, sprachliche Bilder, auch als „figuratives“ Wissen bezeichnet werden, tritt nunmehr für die „figurative“ Malerei eine Konnotation hervor, welche, obwohl ihr vom Wortsinne her eigen, oft nicht beachtet wird. Sowohl der Dichter als auch der Maler führen das Denken, Betrachten und Begreifen des Menschen an „Figuren“ entlang, die, ursprünglich seiner vertrauten Lebens-, Empfindungs- und Vorstellungswelt entstammend, ihn auf seinem Wege der Erkundung der Bedingungen seiner menschlichen Existenz begleiten und sukzessive mit ihm wachsen. Und noch ein Aspekt ist von Bedeutung: „die“ Kälte ist mit den geeigneten Mitteln zu bekämpfen – man braucht winters nur den Ofen mit dem wärmenden Feuer anzuzünden. Was aber unternimmt man gegen „das“ Kalte? Das Kalte im Herzen, im Gemüt, im Umgang miteinander, welches so rasch das Unmenschliche zu werden vermag? – Werfen wir noch einmal einen Blick auf Harry Meyers „Hiberna“-Bilder: Keine lebende Seele ist auf ihnen zu sehen; das Antlitz seiner Erde ist zeitlos, vor-menschlich als nach-menschlich sowohl, man könnte auch sagen: im eigentlichen Sinne un-menschlich. Der Maler konfrontiert uns damit, was bleibt, wenn dieses menschliche Antlitz, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr vorhanden ist: es ist kalt – unermeßlich und unvorstellbar kalt. Er läßt uns nicht gänzlich ohne Zuversicht – an manchen Stellen kämpft sich, inmitten der winterlichen Kältestarre, das Leben in Gestalt von winzigen, aber kraftvollen Eruptionen warmer Farben zurück an die Oberfläche.

Jedoch ist dies weder Garantie noch Automatismus – Harry Meyer entläßt uns nicht aus unserer Verpflichtung gegenüber dem Humanum. „Hiberna“, das „Kalte“: in ein einziges Wort, eine einzige „figura“, manifestiert der Maler, was er über unsere Welt und ihre mögliche Geschichte herausgefunden hat: fragil ist sie, zerbrechlich – und in ihrer Verletzlichkeit unvergleichlich schön.

hiberna 08

Literatur: Konersmann, Ralf (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, 2., unveränderte Auflage, Darmstadt 2008