Harry Meyer: Die oberschwäbische Landschaft

von Bernd Mayer

Harry Meyer als Landschaftsmaler zu bezeichnen, wird seiner Vielseitigkeit sicher nicht gerecht. Trotzdem wird er sich vermutlich gegen diese Klassifizierung kaum wehren, bilden doch gerade Landschaften einen Schwerpunkt seines künstlerischen Schaffens. „Landschaft“ ist ein weiter Begriff. Man findet sie, wenn man so will, überall. Doch gehen wir weg vom Allgemeinen und betrachten das Besondere. Nämlich einen Landstrich, von dem Harry Meyer, nachdem er ihn entdeckt und sich ihm in stunden-, tage- und wochenlangen Streifzügen genähert hatte, in Bann gezogen wurde: Oberschwaben. „Oberschwaben“, so heißt es in der Gegend zwischen Donau und Bodensee, „ist dem Himmel ganz nah“. Das ist metaphysisch gemeint, beschreibt aber ganz profan auch eine Landschaft, über deren Weiträumigkeit sich der Himmel an heiteren Tagen hoch wölbt. Sanft streichen die Wolken an solchen Tagen über die Felder, Wiesen, Wälder, Moore und Auen und zeichnen mit ihren Schatten die vielgestaltige Moränenlandschaft – Überbleibsel der letzten Eiszeit. Straßen und Wege schmiegen sich Hügeln und Tälern an und bilden ein weitmaschiges Netz. Mäandrierende Bäche, tief in Täler eingeschnittene Wasserläufe und dazwischenliegende dunkle Wälder geben dieser Landschaft ihr Gepräge. Eiszeitliche Gletscher haben mit ihrem Geröll sanfte Hügel modelliert und mit ihren Schmelzwassern breite Talsohlen zwischen Moränenhügeln und Schotterfluren ausgeschwemmt. Der weite Blick übers Land wäre fast grenzenlos, würde ihm nicht an Föhntagen das Alpenpanorama Einhalt gebieten. Die Schönheit dieses Landstrichs ist still, sie kokettiert nicht und wirkt in keiner Weise anbiedernd. Diese Landschaft, mit den darin eingebetteten geschichtsträchtigen Städten, den pittoresken Dörfern und altehrwürdigen Schlössern und Burgen, bot im 19. Jahrhundert zahlreichen Malern und Zeichnern, die die Enge ihrer Ateliers verließen, eine schier unendliche Fülle von Motiven und Anregungen.

Diese Tradition lebt in den Arbeiten Harry Meyers fort. Auch er verlässt sein Atelier, belädt sein Auto mit Farben, Pinseln und Leinwänden und fährt in die Landschaft. Doch ist dieses Fahren zunächst kein gezieltes Bewegen auf einen Ort hin. Er durchfährt diese sich ständig verändernde Endmoränenlandschaft und nimmt die wechselnden Eindrücke in sich auf. Das Fahren im Auto über die kleinen Straßen ist für ihn ein Akt der Konzentration. Immer wieder sucht er dieselben Plätze auf, kreist den Ausschnitt, der später auf die Leinwand gebannt wird, gewissermaßen ein. Sobald er einen Platz gut kennt und ihn in sich aufgenommen hat, trägt er ihn in sich.

Den Malgrund seiner Leinwände bereitet er mit derselben Sorgfalt, mit der er sich seinem ausgesuchten Landschaftsausschnitt nähert, in einem mehrstufigen Prozess in geradezu altmeisterlicher Manier vor. Zunächst streicht er sie mit Knochenleim ein – „altmodisch“, wie er sagt –, dann kommen verschiedene Schichten drauf: Kreidegrund, darüber eine dünne Leimung, dann wieder eine Schicht Kreidegrund und schließlich ein ölhaltiger Grund.

In der ersten Phase des Malprozesses zeichnet er in der Natur auf der Leinwand mit schwarzer Kohle das Landschaftsmotiv vor. Mit kräftigen, flott auf den Untergrund gesetzten Strichen skizziert er den gewählten Landschaftsausschnitt. Er versucht, in dieser Skizze die Struktur des Raumes, in dem er sich befindet, zu erfassen. Ihm geht es nicht um die Farb- und Lichtstimmung, sie interessieren ihn zunächst nicht. Das so entstandene, relativ abstrakte Bild ist von hohem grafischem Reiz, doch ist ihm kein langer Bestand beschieden, denn bald wird es unter der Ölfarbe verschwinden. Über die Kohlezeichnung schichtet Harry Meyer seine Farbberge. Schicht für Schicht modelliert er seine Landschaften. Der Farbauftrag geschieht in mehreren Schritten. Immer wieder legt er Ruhephasen ein, damit das Öl vom Untergrund aufgesaugt werden kann. Die dominierende Farbe ist Grün in seinen vielfältigen Schattierungen. Mächtig aufgeworfene Hügel ragen den schmalen Himmelszonen entgegen. Energisch schieben sich helle Farbströme zwischen die Erhebungen und erschließen den Bildraum in die Tiefe. Hie und da setzen gelbe, rote und orange Lichter einen farbigen Akzent. Eines fällt auf. Die Landschaften sind menschenleer, jede Spur von Besiedelung fehlt. Zeugnisse technischen Fortschritts, wie Stromleitungen, Bahngleise und Straßen, sind ausgeblendet. Meyers Gemälde gewinnen so einen Zug von Überzeitlichkeit. Und doch leben die Bilder: Das bunte Nebeneinander von apfelbaumbestandenen Wiesen, Waldinseln und Berghängen, die durch das Schattenspiel der Wolken und den Einfall des Lichts rot aufscheinen, kommt in seinem Empfindungswert der realen Situation sehr nahe. Es ist deutlich zu spüren, dass sich der Künstler intensiv mit dieser Landschaft auseinander gesetzt und in einem langsamen Annäherungsprozess ihren Charakter erfasst hat. Zu Recht darf man Harry Meyer damit als einen der aktuell wichtigsten Chronisten der oberschwäbischen Landschaft bezeichnen.

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Aus dem Museum – In das Museum“

von Brigitte Herpich

 

„Die Flut zerfrißt und verschleißt das Kiesbett, die Geschichte höhlt den Fels aus und steigt immer tiefer hinab, fährt wie eine Klinge in die zerfurchte Kugel, die im Weltraum rotiert, eines schönen Tages werden die Schnitte bis zum Mittelpunkt der Erde gehen und die Stücke der aufgeschnittenen Wassermelone alle ihre eigenen Wege gehen.“ Claudio Magris, Microcosmi – Die Welt en gros et en détail, 1997

Geschichte geschieht, und Geschichte verändert die Welt, sagt Claudio Magris – und er deutet weiter an, wie gravierend diese Veränderung sein kann: Was ehemals zusammengehörte, ist durch den darüber hinweggefegten Sturm der Zeitläufte voneinander getrennt; so sehr, daß es nicht mehr zusammenzuwachsen vermag – und gleichzeitig aber nagt der Zweifel: Ist das dergestalt Getrennte überhaupt lebensfähig, oder sind die vereinzelten Teile unrettbar dem Verfall geweiht?

Diese vordergründig pessimistisch erscheinende Darstellung einer Trennung mag in den Sinn kommen, wenn Harry Meyers zeitgenössische Kunst aus der Zeit der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert ein Museum betritt, dessen Kunstschätze den lebendigen christlichen Glauben und die tief verwurzelte Volksfrömmigkeit einer lange vergangenen Epoche dokumentieren. Der moderne Mensch steht dem Sakralen in vielfacher Hinsicht sehr ferne, der Glaube ist ihm abhandengekommen, die religiösen Gebrauchsgegenstände seiner Vorfahren sind ihm lediglich Relikt. Aber auch sein Vertrauen in viele Heilsversprechungen ist längst enttäuscht: Der Mensch hat die Emanzipation von den Bevormundungen – auch seitens der Kirche und ihrer Repräsentanten – vollzogen, um inmitten einer größtmöglichen Freiheit oftmals unbehaust und obdachlos zu existieren, sein Leben nicht selten zerlegt in biographische Nano-Partikel, „Lebensabschnitte“ genannt.

Harry Meyers, des modernen Menschen, Kunst, im Museum der Kirchenschätze aus einer anderen, vergangenen Zeit: Es stellen sich die Frage und die Aufgabe der Zusammenführung! Begeben wir uns zunächst auf die Spur der Worte: Zedler’s „Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste“, Bd. 22 (1739), verweist unter dem „MVSEVM“ zuerst auf den Tempel zur Verehrung der Musen und auf das Haus der Gelehrten, sowie die daraus folgende jüngere Bedeutung des Studierzimmers; sodann aber bereits auf eine „Kunst-Kammer, ein Müntz-Cabinet, Rarität- und Antiquitäten-Kammer, wovon unter besondern Artickeln nachzusehen“ sei – sowohl die Kunst, ebenso wie die Rarität oder die Antiquität, wird auch der Mensch des 21. Jahrhunderts jedenfalls mit dem Museum in Verbindung bringen. Und tatsächlich lesen wir unter dem Stichwort „Kunst-Kammer“ folgende Definition: „Kunst-Kammer / lat. Museum, Frantz. Cabinet, ist ein zusammengebrachter und wohlgeordneter Vorrath von allerhand Seltenheiten der Kunst / als von Mahlerey / Bildhauerey / Tischler / Drechsler / Goldschmiede / Uhrmacher / Spiegel – und anderer dergleichen Arbeit / wobey gemeiniglich auch die Seltenheiten der Natur gefüget werden / dergleichen in Fürstlichen HofLagern / bey grossen Städten / hohen Schulen / auch wohl privat-Häusern hin und wieder angetroffen / und von Durchreisenden mit Lust besuchet werden.“ – Diese Auskünfte, obwohl nachvollziehbar, führen jedoch noch nicht viel weiter hinsichtlich der gestellten Aufgabe, die Risse oder gar Klüfte einer auseinanderlaufenden historischen Entwicklung zu kitten und wieder zusammenzuführen.

Unter dem Stichwort „Raritäten-Cabinet“, welches zunächst ebenfalls auf den Charakter der Sammlung, und, dem Wortsinne folgend, auf die Seltenheit der darin befindlichen Objekte verweist, finden sich im Anschluß daran einige wesentliche Hinweise, die es wert sind, näher betrachtet zu werden. Zum einen wird sinngemäß betont, daß die in der Sammlung dargebotenen Schätze in zahlreichen Fällen den Menschen als Vernunft- und als Gemütswesen (in seiner Ganzheit also!) ansprächen und so mehr erreichten als wissenschaftliche Werke, die ausschließlich auf den Intellekt ausgerichtet seien. Des weiteren wird der Leser aufgefordert, anspruchsvolle Sammlungen – zum Beispiel auf Reisen – gezielt aufzusuchen und nach Möglichkeit mehrmals zu begehen. Als Qualitätskriterium sollte dabei unter anderen auch die „Ordnung“ bzw. Anordnung der Exponate gelten.

Und schließlich wird empfohlen, eine Schreibunterlage mitzunehmen, um Denkwürdiges festhalten und zu dauerhaftem späterem Nutzen aus der Ausstellung mitnehmen zu können. Noch einmal zusammengefaßt: Der Mensch in seiner gesamten, umfassenden Wesenheit – die aktive, stetig wiederholte und erneuerte Auseinandersetzung mit dem Gegenstand – der Begriff der „Ordnung“ – die Fixierung und Haltbarmachung des Eindrucks – und schon stehen wir, aus dem Museum kommend, im Zentrum der Kunst Harry Meyers! Man könnte die bisherigen Ausführungen über die Begriffe des „Museums“ und des „Kabinetts“ ergänzen um den Ausdruck des „Speichers“, in welchem Nahrung, jedoch auch Energie oder Information, aufbewahrt werden, um sie zu einem späteren Zeitpunkt zu verwenden. Harry Meyer hat diese verschiedenen Speicher zeit seines Lebens genutzt: Er hat Museen besucht, Bücher gelesen, die freie Natur, aber auch die seit Jahrtausenden kultivierte Landschaft sich erobert, er hat sich mit Menschen auseinandergesetzt, den Speichern von Information schlechthin – und er hat seine und anderer Erfahrungen verarbeitet – er hat Historie verarbeitet; ist diese doch nichts anderes als die Gesamtheit aller Erfahrung. Er hat sozusagen aus dem „Archiv“ menschlichen Handelns als auch aus dem „Archiv“ natürlicher bzw. naturgesetzlich terminierter Geschehnisse geschöpft; wobei die Vokabel des Archivs hier bewußt gewählt ist: Bereits Zedler (hier: Bd. 2, 1732) betont, daß, was aus einem „Archiv“ als einem öffentlichen Ort komme, Beweiskraft, zumindest Glaubwürdigkeit, aus dieser Herkunft beziehe! Es sei nun dahingestellt, ob besagte Glaubwürdigkeit grundsätzlich gegeben sei; in der Kunst Harry Meyers kommt ihr definitiv eine tragende Rolle zu: Wahrheit ist für ihn eine ethische, nicht eine logische Fragestellung!

Nicht von ungefähr kommt es daher, daß Meyer, als er sich im Jahre 2003 erfolgreich dem Wettbewerb um den Lucas-Cranach-Preis der Cranach-Stiftung Wittenberg stellte, das Motiv „Mund der Wahrheit“ einer Wiederaufnahme und Bearbeitung unterzog. Dem „Mund der Wahrheit“ oder der „Bocca della Verità“ wird die Fähigkeit zugesprochen, Lügner zu entlarven: Wer als Lügner seine Hand in den geöffneten „Mund“ legte, sollte sie unwiederbringlich verlieren!

Die Arbeit an der Vorgabe eines der Alten Meister ist gewiß zunächst einmal ein Schöpfen aus dem „Archiv“ – Cranach auszuwählen, ist viel mehr: man weiß, daß er, des Lateinischen mächtig, viele der in dieser Sprache verfaßten Sentenzen und Zitate, welche seine mythologischen Darstellungen begleiteten, in ihrer Bedeutungstiefe sehr gut verstand und differenziert einzusetzen vermochte. Unter dem didaktisch hervorragend aufbereiteten Deckmantel moralischer Unterweisung setzte Cranach, mancherorts ironisch und sicher nicht gegen den Willen seiner höfischen Auftraggeber, sinnliche Erotik ins Bild – auch ein Exempel für den Umgang mit Glaubwürdigkeit und Wahrheit, welche vom Mächtigeren für sich selbst großzügiger angewandt wird als für andere. Erwähnenswert übrigens ist dies vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die Bezeichnung „Mund der Wahrheit“ im Mittelalter für hölzerne Kästen genutzt wurde, in die man schriftliche Hinweise auf den sündhaften Lebenswandel seiner Mitbürger einwerfen konnte – Hinweise, die mit Sicherheit genauerer Untersuchung oft nicht stand- gehalten hätten, der Ablenkung von den Verfehlungen der Denunzianten jedoch trefflich gedient haben mögen.

Harry Meyers Werk „Rete“ (Abbildung S. 15) steht ebenfalls unmittelbar in dem geschilderten Zusammenhang: Zum einen kann es als die Verstrickung des Individuums in die Folgen seines eigenen Tuns gesehen werden, die es nicht mehr beherrschen kann; zum anderen als das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen dem Einzelnen und den Individuen seiner Lebenswelt; des weiteren als das Spinnen-Netz aus Unwahrheit und übler Nachrede, in welchem es bewegungsunfähig gefangen sitzt. Einen weiteren Gesichtspunkt aber gibt es, der die Zeiten überspannt: Die Verbindung und Vernetzung des jüngeren mit dem älteren Künstler gelangt auf dem Werk zur Darstellung. In dem Moment, in welchem Meyer das Cranach’sche Bild betrachtet und seine individuelle „Wahrheit“ aus ihm bezieht; in dem Moment, in dem der gegenwärtige Rezipient Meyers Bild wahrnimmt; und wiederum in demjenigen Moment, in welchem ein Betrachter der Zukunft Cranachs oder Meyers Werke im Museum sieht – und vielleicht seinerseits Kunst daraus entstehen läßt –; in solch seltenen Augenblicken im Zeitmeer scheint der Lauf der Geschichte angehalten, es verwirklicht sich die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die Intensität sowie die Stärke des Dialogs zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wachsen dabei proportional zu seiner Selbstverständlichkeit – eine Selbstverständlichkeit, die sich bei Cranach und Meyer mit einer Gewißheit, welche sich eher erspüren als rational erfassen läßt, um so verläßlicher einstellt. Wer sich nun seinem Gespür für die aus den Zeitläuften herausgelösten Knotenpunkte (um im Bild der „Rete“, der „Netze“, zu bleiben) anvertraut, wird, daran entlang die Fäden verknüpfend, auch das Zwiegespräch zwischen den Werken Harry Meyers und den Exponaten des Museums zu Eichstätt erlauschen können. Es ist dabei allerdings bei vielen Ausstellungsstücken der Versuchung des Verweilens bei der Ästhetik zu widerstehen; stammen diese zum Beispiel aus dem 17. Jahrhundert, so möglicherweise auch aus der Zeit des 30jährigen Krieges, dessen unvorstellbare Greuel sich hinter ihrer Schönheit verbergen. Auf die „vestigia vitae“, um einen Ausdruck des Barock zu verwenden, auf die „Spuren des Lebens“, vielleicht nur auf „Reste des Lebens“, ist zu hören, wenn man sich ihnen stellt, auf Verzweiflung, Todesangst, aber auch Inbrunst des Gebets und Hingabe an den Schöpfer. Wiedergefunden und wiederzufinden sind diese Aspekte menschlicher Existenz und menschlichen Leids in Harry Meyers „Köpfen“, in den Bildern der Werkreihe „Inkubator“ und „Transit“ (Abbildungen passim); auch in der Darstellung der „Figurabilitas“ (Abbildung S. 19), in welcher nicht der Mensch Gestalt annimmt, sondern sein Ausgeliefertsein, das die übernatürlich großen, wie in Abwehrhaltung in Richtung des Betrachters ausgestreckten Hände, dennoch nicht abwenden können – vielleicht auch gar nicht abwenden wollen?

Es sei, in der Begegnung mit den „Köpfen“, in denen uns Menschen, Individuen, gegenüberstehen, an einen Gesichtspunkt erinnert, der gerade in einem von der Kirche getragenen Museum von Bedeutung ist. Seit dem hohen Mittelalter hat die Kirche aus bestimmten menschlichen Schwächen, neutraler formuliert: aus bestimmten menschlichen Verhaltensweisen – die wohl niemandem unvertraut sind – sieben Todsünden geformt. Vielleicht mag es auf den ersten Blick befremdend sein – aber steht nicht Harry Meyers blutiges Rot für die immerwährende Hilflosigkeit des Menschen gegenüber seiner eigenen, entfesselten Gewalt, seiner zornigen Raserei? Verkörpert nicht das Maskenhafte, das hinter sich selbst sich Verbergende, eine moderne „superbia“, eine Unfähigkeit zur zwischenmenschlichen Beziehung, resultierend aus grenzenloser Selbstüberschätzung? Und bedeutet „acedia“, die Trägheit, nicht ein Übermaß an Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst und anderen, ein Desinteresse am Leben, ein Wegwerfen des Lebens zu einer Zeit, da es noch gar nicht beendet ist? Dies alles gehört zum Bild des Menschen, das uns der Künstler vorstellt – dem uns zu stellen er uns hier und jetzt an diesem Ort zwingt. Denn der Faktor Zeit verändert die Materie fortwährend – manches Menschliche aber bleibt immer gleich.

Literatur
  • Mall, Ram Adhar, Mensch und Geschichte. Wider die Anthropozentrik, Darmstadt 2000
  • Seifert, Arno, Cognitio Historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie, Historische Forschungen Band 11, Berlin 1976
  • Artikel „Archiv“, in: Zedler, Johann Heinrich, Großes Vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Band 2, Leipzig und Halle 1732, Spalten 1241 bis 1244
  • Artikel „Kunst-Kammer“, in: Zedler, Johann Heinrich, Großes Vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Band 15, Leipzig und Halle 1737, Spalten 2143 bis 2144
  • Artikel „MVSEVM“, in: Zedler, Johann Heinrich, Großes Vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Band 22, Leipzig und Halle 1739, Spalten 1375 bis 1376
  • Artikel „Raritäten-Cabinet“, in: Zedler, Johann Heinrich, Großes Vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Band 30, Leipzig und Halle 1741, Spalten 890 bis 891

Berge versetzen

von Brigitte Herpich

Im April des Jahres 1336 schreibt der Dichter Francesco Petrarca einen Brief an seinen väterlichen Freund, den Augustiner-Mönch Francesco Dionigi, worin er diesem die von ihm jüngst zusammen mit seinem Bruder unternommene Besteigung des Mont Ventoux in der Provence schildert. Im einleitenden Abschnitt heißt es:
„Dieser Berg aber, der von allen Seiten weithin sichtbar ist, steht mir fast immer vor Augen.“ – Dieser Satz stellt beide Formen menschlichen Sehens, die äußere Sinneswahrnehmung wie die innere Reflexion vor dem geistigen Auge, nebeneinander und impliziert ihre Gleichberechtigung sowohl wie ihre innere gegenseitige Bezogenheit und Wechselwirkung.

Die beiden vorgestellten Berg-Bilder Harry Meyers, in ihrem augenfälligen Kontrast von Farbigkeit und Schwarz-Weiß bzw. Hell-Dunkel, verdeutlichen eben denselben Prozeß von Sehen, Gedankenarbeit, Erkenntnis als deren Resultat, und von erneutem Wieder-Sehen, unter Einbeziehung und Anwendung der durch das erste, ursprüngliche Sehen gewonnenen Erkenntnis. Harry Meyer verwendet als Gegenstand für diesen seinen systematischen Erkenntnisprozeß aus mehreren Gründen den Berg. Als massive sich vor dem winzigen Menschen auftürmende Gesteinsformation steht er für Alter und Beständigkeit – wenn nicht gar Ewigkeit – in einer von Veränderung und Veränderlichkeit geprägten Welt. Wenn auch die gigantischen Kräfte, die im Laufe der Erdgeschichte zur Aufwerfung der Gebirge geführt haben, gewöhnlich dem menschlichen Vorstellungsvermögen entzogen sind, so eröffnet sich doch durch die Naturgewalt, die in einem Vulkanausbruch oder einem Bergrutsch wirksam wird, eine Ahnung davon – der Berg, der beständige, wirft sein Innerstes nach außen und gibt es, zwar erzwungenermaßen, dem Blick frei.

Der Maler Harry Meyer wiederholt diesen Vorgang: auch er erschüttert Bestehendes, indem er es kompromißlos, ohne Schonung auch gegen sich selbst, hinterfragt, es gleichermaßen „seziert“: das Ölbild „Berge“ zeigt diese in einer noch relativ vertrauten Weise; grüne Almwiesen und dunkle Tannenforste können noch assoziiert werden, und so die ersten verstörenden Eindrücke (durch bei näherem Hinsehen auftauchende bodenlose Abgründe und Risse an der Oberfläche) noch einmal kompensieren. Die schwarz–weißen „Berge“ sind eine konsequente Weiterführung des „Sezierens“, des Offenlegens im Prozeß der Erkenntnis: Reduziert um die dem menschlichen – äußeren wie inneren! – Auge eher gefällige Farbigkeit, bloßgelegt vom „Fleische“ des Erdbodens, zeigen sie nur noch das Wesentliche: Felsen und Steine als die “Gebeine“ der Erde, als das Gerüst und „Skelett“, als das, was dem ganzen die grundsätzliche Struktur und Ordnung verleiht. Diese Ordnung legt Harry Meyer frei, indem er ihr folgt und alle Verschüttungen des Überflüssigen entfernt.

Die ultimative Aufforderung, es ihm gleichzutun, ergeht auch an den Betrachter, der sich von liebgewonnenen und vertrauten Bildern und Vorstellungen langsam, aber unaufhaltsam lösen muß. Er muß, wie vor ihm der Maler, lernen, „Berge zu versetzen“; mit anderen Worten, er muß lernen, sich der anfangs scheinbar unüberwindlichen Aufgabe zu stellen, die eigenen Grenzen des Bekannten und vermeintlich Bewährten zu erweitern bzw. neu abzustecken. Harry Meyer unterstützt ihn dabei mit dem Verweis auf die Natur des Berges, welcher trotz aller Beschwerlichkeit der Herausforderung auch Anknüpfungspunkte bietet, indem er dem Menschen durch seine feste Verankerung in der Erde und durch seine gleichzeitige Nähe zum Himmel als Verbindung zwischen verschiedenen Welten dienen kann. Seit alters her empfindet der Mensch diese besondere Affinität zu den Bergen, was sich nicht zuletzt dadurch äußert, daß er ihnen organische, ja menschliche Attribute zuweist: Erze und Edelmetalle durchziehen den Berg als Adern, menschliche Behausungen finden sich an seinem Fuße, und man wandert auf seinem Rücken. Vor allem anderen aber ist es seine zweifache Natur – Objekt zu sein und von Wasser, Wind, Erosion und Vulkanismus geformt zu werden, wie gleichermaßen als Subjekt und Transformator der auf ihn wirkenden Elemente selbst seine direkte Umgebung zu beeinflussen –, die dem Menschen Bestätigung seiner selbst vermitteln kann: denn welchen Menschen gäbe es, der sich nicht gegensätzlich zu sich selbst verhielte?

Harry Meyer „Die Kleinen Bilder“

von Gode Krämer

Emanuel Braun hat in seinem vorzüglichen Einführungstext im Katalog zur Ausstellung „Im Dialog. Harry Meyer im Domschatz- und Diözesanmuseum Eichstätt“, 2007, Seite 6, Harry Meyers malerische Arbeitsweise mit folgendem Satz wunderbar klar charakterisiert: „Er beginnt erst ein Motiv zu malen, wenn er es für sich völlig erobert hat, wenn er es so verinnerlicht hat, dass es in seinem inneren Auge erscheint.“ Diese Beobachtung gilt natürlich für das gesamte Schaffen Meyers, doch ist sie besonders wichtig, ja entscheidend im Hinblick auf die „Kleinen Bilder“. Denn nur so ist die unglaubliche Sicherheit zu verstehen und zu erklären, mit der auf kleinem, ja kleinstem Rechteck mit breitem Pinsel und bis zu 2–3 cm hohem pastosen Farbauftrag Landschaften und Naturereignisse in vollendeter Komposition entstehen. Die Spannweite der in den Jahren 1997–2007 entstandenen Bil­der, die hier dokumentiert sind, reicht von klar erkennbaren dramatischen realistischen Landschaften bis zu den aus den größeren Bildern bekannten Themen der „Regenbilder“ oder „Energie­bilder“, die dann allerdings, in diesem kleinen Format verwirklicht, mitunter nahezu abstrakt wirken. Die „Kleinen Bilder“ laufen parallel zum übrigen Schaffen Meyers, d. h. die Motive, die ihn im Laufe der Jahre in seinen großen Bildern beschäftigten, tauchen gleichzeitig oder zeitversetzt auch in den „Kleinen Bildern“ auf: Berge, Bäume, Regen, Energie. Dennoch, und das ist wichtig festzuhalten: Weder wiederholen die „Kleinen Bilder“ größere Kompositionen, noch sind sie Entwürfe für größere Bilder. Die „Kleinen Bilder“ sind eine ganz eigene Kunstform. Um einen Begriff von der motivischen und malerischen Unter­schiedlichkeit zu geben, möchte ich zunächst drei Bilder beschreiben, zwei aus dem Jahr 2006, eines 2004 entstanden. Das erste ist das auf Seite 49 abgebildete aus dem Jahr 2006 mit dem Titel „Wald“. Es scheint leicht zu beschreiben, erscheint es doch realistisch gemalt wie eine Landschaft aus dem 19. Jahrhundert. Drei kahle Baumstämme ragen in deutlicher Tiefenstaffelung nach links hinten stehend aus dem dunklen Erdreich in die bläulichweiße Himmelszone und werden oben vom Rand abgeschnitten. Während die Stämme selbst in dünnem Farbauftrag ge­strichen sind, sind ihre Wurzeln, dick und pastos aufgetragen, mit dem Erdreich verwachsen: Man wird darüber stolpern, wenn man nicht aufpasst. Die Farben der Stämme – rot mit dunkelblauer Mitte rechts, gelb der mittlere und graugrün der hintere – ziehen sich in das Erdreich – oder auch umgekehrt; jedenfalls liegt unter dem bläulich-blassen Himmel der Vordergrund in dunkleren, ganz natürlich erdigen Farben. Ebenfalls wie ein Pendant des pastos aufgetragenen Wurzel-Erde-Gemenges unten rechts ballt sich oben links eine ebenso dick gemalte weiße Wolke mit dunkelblauen und grauen Rändern gefährlich zusammen.

Das zweite Bild, das auf Seite 46 abgebildet ist, ebenfalls aus dem Jahr 2006, ist ungleich schwerer zu beschreiben. Sein Titel „Schlucht“ weist vielleicht einen Weg zu einer interpretierenden Beschreibung. Denn links scheinen aus einer steil ansteigenden Erdwand aus grünlichen und rötlichen Tönen ebenso zwei Baum­stämme aufzuwachsen wie rechts aus dem zur Mitte hin abfallenden Abhang – farblich geteilt in eine hellere obere und eine dunklere untere Hälfte – weitere Stämme. Dazwischen in der Mitte, dort, wo die nicht einsehbare Schlucht zwischen Wand und Ab-hang endet, wächst ein breiterer Stamm empor. So könnte man, durch den Titel beeinflusst, das Bild sehen. Doch tatsächlich bewirken diesen Eindruck allein die Baumstämme und der deutliche Keil in der Mitte des Bildes, aus dem der breite Stamm wächst. Dagegen herrscht im unteren Bildteil, dort, wo der Eingang zur Schlucht hinter dem gelben, von links einführenden Weg sich öffnen sollte, das reine Farbchaos. Hier ballt sich, wieder dick und pastos aufgetragen, ein Farbstrudel zusammen, in den die Farben aus beiden Bildhälften zusammenfließen und aus dem sich die fast figürlich wirkende gelbe Farbmasse unten löst. Verbindet man den Versuch einer Beschreibung des Bildes als reale Schlucht mit der reinen Farbbeschreibung, so wäre eine Interpretation möglich: Die Schlucht, der Hohlweg als Ort der Gefährdung, der Gefahr. Auch das auf Seite 34 des Kataloges abgebildete Werk aus dem Jahr 2004 – ein Bild, das für die kleine Fläche von 21 x 20 cm mit unglaublichen Farbmassen geradezu hochreliefartig gemalt ist –, erschließt sich aus dem Titel: „Feuer“. Auf den behutsam aber rasch aufgetragenen Schichten von dunkel gemischter Ölfarbe, die sich aus der Fläche der Leinwand hochwölbt, liegt an vielen Stellen als letzte Schicht ein leuchtendes, loderndes Rot, das sich von unten nach oben, aber auch von oben nach unten flackernd zu bewegen scheint. Ausgangspunkt ist die dunkle untere Ecke links, aus der in zwei Strängen – nach links oben noch unterdrückt mit gelblichgrüner Färbung, nach rechts oben in schon entzündetem Rot – die Flammen Nahrung erhalten. Oben, vom Rand des Bildes beschnitten, beginnt das Feuer hell zu lodern. Wer den faszinierenden Anblick des Feuers kennt, dieses unentwegt verlöschende und wieder ausbrechende Glühen, die plötzlich aus dem Dunkel des Grundes irgendwo und nicht vorhersehbar auflodernden Flammen, der wird in diesem Bild eine überaus realistische Darstellung dieses Phänomens erkennen. Natürlich war die Wahl dieser drei Bilder bedacht, um die Spannweite von einer realistisch anmutenden Landschaft zu einem nahezu abstrakt erscheinenden Bild, das sich erst durch den Titel erschließt, zu dokumentieren. Allerdings wären aus der Fülle der Bilder im vorliegenden Katalog genügend ähnliche Beispielreihen auszuwählen gewesen, die dann bei anderen Motiven zu ähnlich beschreibenden Interpretationen geführt hätten. Denn allen Bildern der Serie „Kleine Bilder“ – und das gilt auch für die gesamte Landschafts- und Naturmalerei Harry Meyers – liegen zwei durchgehende Komponenten zu Grunde: Eine inhaltliche und eine formal-gestalterische.

 Die inhaltliche Komponente wurde schon angedeutet: Harry Meyer geht es nicht um die Darstellung der Landschaft, der Natur an sich, sondern um ihre Ausdeutung, um seine Deutung ihrer elementaren Macht. Selbst in dem zuerst beschriebenen realistischen Bild wölbt sich der Boden im Vordergrund auf und bildet sich am Himmel eine bedrohliche Wolkenformation. Alle seine Land­schaften sind expressiv, ja explosiv. Seine Intention verdeutlichen nicht nur die Titel, z. B. „Wind“ (S. 30, aus dem Jahr 2003), „Sturm“ (S. 21 aus dem Jahr 2000, S. 40, S. 41, 2005), sondern auch die elementare Wucht, mit der der Künstler etwas Immaterielles wie die aufgepeitschte Atmosphäre als ganz konkrete Form in Farbe gefasst zur Erde herab stürzend darstellt. Dieses Wagnis, das uns ständig umgebende Immaterielle wie Licht, Energie, Luft ganz realistisch darzustellen, ist überhaupt die große innovative Leistung Harry Meyers. Für die Darstellung der Energie (S. 29 der Block von neun Bildern „Land Energie“ aus dem Jahr 2003, S. 33, 2004) hat er, wohl ausgehend von den materiell erfahrenen und gemalten Regengüssen, eine eigene Ikonographie gefunden: Ein vielbeiniges Wesen, das die Erde überzieht und seine Schöpferkraft – positiv oder negativ – in langen Bahnen herabfließen lässt. In einem besonders ausdrucksstarken Bild (S.48, 2006) hat er dem „Licht“ Ausdruck und materielle Gestalt gegeben. Jeder kennt das überraschende und beglückende Phänomen, wenn sich plötzlich und nur sekundenlang andauernd aus den Wolken ein Lichtstrahl ergießt. Diesen Strahl hat er in seinem Bild materialisiert mit einer derartigen Farbenpracht und pastos aufgetragenen Farbenmasse, als habe sich das Licht als Farbe manifestiert.

Selbst ein so hinreißend schönes Bild – in meiner Sicht – wie „Land“ (S. 49 aus dem Jahr 2006), mit dem wunderbar weiten, gelben Himmel, der über die in Orange und Grün gefärbte Landschaft fegt, erhält etwas Beängstigendes, bedenkt man, dass das Bild nur einen Ausschnitt zeigt, und wie es wäre, wenn der ganze Himmel eine so ungewohnte, unnatürliche Färbung annähme. Oder auch der „Apfelbaum“ (S. 44, 2006 ) – wieder ein sehr realistisches Motiv – steht bedrohlich schief und stemmt sich mit aller, fast scheint es, nicht ausreichender Kraft gegen Wind, Wetter und Wolken, weil auch der aufgewühlte Boden, in dem er wurzelt, abgleitet, denn die gelbe Erde, deren Farbe sich in den Spitzen des Baumes widerspiegelt, scheint nach unten herabgeschwemmt zu werden. Besonders die Bäume, die in der abendländischen Kunstgeschichte eine so bedeutende Rolle spielen als hoheits­volles, hochragendes, beschützendes, dem Sturm trotzendes Symbol – von den Darstellungen ihrer Lieblichkeit, Schönheit ganz abgesehen – sind in Harry Meyers Landschaften von der Gewalt der Natur zerzaust, gebeugt, ihrer Pracht beraubt. Häufig ragen nur noch ihre Stämme ein Stück empor, ehe sie vom Bildrand abgeschnitten werden wie in der beschriebenen Land­schaft (S. 49, 2006, oder S. 35, 2004, S. 40 und S. 43, 2005). Wenn Meyer sie in ganzer Gestalt darstellt, wie in den beiden großartigen, ganz unterschiedlichen Bildern aus dem Jahr 2000 (S. 22, S. 24), so nicht in ausladender runder, breiter Form, sondern in schmalem Umriss, schräg stehend, fast fallend, geschüttelt vom Sturm oder ruhig stehend, nach dem Unwetter.

Nun zur gestalterischen Komponente in Meyers Werk, die sich in den „Kleinen Bildern“ leichter nachvollziehen lässt. Harry Meyer komponiert seine Bilder bewusst oder unbewusst so, dass der Mittelsenkrechten eine tragende Rolle zukommt. In den am Anfang beschriebenen Bildern „Schlucht“ (S. 46) gibt der mittlere Baumstamm die Mitte des Bildes an, beim „Wald“ (S. 49) der dünne mittlere Stamm, beim „Feuer“ (S. 34) ist es ziemlich genau die Stelle am oberen Rand, wo sich im Durchblick der blaue Himmel mit der roten Flamme des Feuers trifft. Diese Koordinationslinie findet sich deutlich oder nur angedeutet, mitunter in direktem Bezug zum oberen Rand, mitunter irgendwo im Bild auf der Mittelsenkrechten ausgedrückt durch einen besonders auffallenden Farbpunkt oder durch den Schnittpunkt von Linien – häufig genau im Schnittpunkt der Diagonalen – in allen Bildern. In direktem Zusammenhang mit der senkrechten Teilung der Bildfläche steht die horizontale Teilung und der gemeinsame Schnitt­punkt, in dem sich die Diagonalen treffen, die Mitte des Bildes. Es handelt sich dabei nicht um eine mathematische Systematik, sondern vom Künstler aus um eine unbewusste oder auf der Erfahrung beruhende ästhetische Einteilung der Bildfläche, deren Exaktheit er in der und mit der Malerei überspielt, die ihm jedoch die Sicherheit einer ausgewogenen Komposition im jeweils gewählten Bildformat gibt. Denn hinzu kommt noch etwas anderes, die „Kleinen Bilder“ Betreffendes: Eine geradezu unfassbare Sicherheit der Pinselführung im flächigen, aber auch dreidimensionalen Bereich. Wenn man seine großen, größeren, ja gewaltigen Formate kennt mit ihren breiten, langen, häufig die Komposition bestimmenden Pinselstrichen, so kann man sich kaum vorstellen, wie er diese außerordentliche Explosivität auf das kleine Format übertragen kann. Er wählt dazu, wenn ich das richtig sehe, seit etwa 1998/99 den Ausweg in die Drei­dimensionalität, eine Technik, die er bei seinen kleinen reliefhaften Köpfen anwandte. Dadurch gewinnen seine „Kleinen Bilder“ eine unvergleichlich stärkere Ausdruckskraft an Realität. Der Betrachter sieht nicht mehr nur die gemalte Natur, sie wird vor seinen Augen plastisch. Er gleitet mit seinen Augen, ja mit seinen Sinnen Anhöhen empor, erspürt die Wölbung der Wolken, ertastet Oberflächen und meint, über Wurzeln zu stolpern, wie ich am Anfang schrieb.

„Land Energie – Die ganze Welt in einem Bild“

von Brigitte Herpich M. A.

Harry Meyers Ölgemälde aus dem Zyklus „Land Energie“ stehen dem klassischen „Kosmos“-Begriff sehr nahe: Alle vier Elemente – das feurige Licht der Blitze, das Wasser des Gewitterregens, der tosende Sturm und die seiner Wucht ausgesetzte Erde – vereinigen sich zu Werken von großer Ausstrahlungskraft. Herausragende Bedeutung eignet hierbei dem Licht: Es ist schön an sich; und mit den Strahlen seines Glanzes, den es verschwendet und der dennoch unerschöpflich ist, vermehrt es diese Schönheit in der Sichtbarmachung aller Dinge – es geleitet, nach der Auffassung des Aristoteles, das bloß Mögliche zur Wirklichkeit. Licht-Energie in reinster Form ist gebündelt im Blitz: folgt der nach Sinn suchende Mensch dem Vorbild der Erde in ihrer Hingabe, so trifft ihn die Erleuchtung wie der Einschlag des Blitzgewitters das geduldige Land.

 

Vom Himmel, der Erde und den Elementen

Für meinen Freund Harry

von Konrad Oberländer

»Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir!«
Und will ihn über die Kastanien tragen –
dann halt, dann halt ich ihn nicht hier...
Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.

Paul Celan, »Drüben«

Harry, mein Freund, ist Maler und er hat eine Verbindung zum Himmel, deren besondere Art hier nicht beschrieben sein soll. Das weiß man aber. Das kommt daher, daß er einen Großvater hatte, der aus der Bukowina kam, und der bekanntlich auch diese besondere Befähigung hatte, sich mit dem Himmel in Verbindung zu setzen, was man sich am besten so vorstellt, daß ihm eine Art Drähte zur Verfügung standen, die wir mal mit Telefondrähten vergleichen wollen, die aber eher Telepathiedrähte waren, denn sie waren ja nicht sichtbar. Und die reichten bis in den Himmel, jedenfalls so weit nach oben, daß er über sie Nachrichten empfangen konnte, die es ihm ermöglichten, vergangene oder auch zukünftige Geschehnisse zu sehen, die anderen ganz und gar verborgen waren. Über diese sprach er gelegentlich und er benutzte sie gelegentlich sogar zu Heilungen, die allen Nichteingeweihten unerklärlich bleiben mußten, weil sie ja nichts von den Quellen seines geheimen Wissens wußten. Von diesem besagten Großvater nun ist die Befähigung zu bestimmten Ahnungen, ja besonderen Gewißheiten, die bekanntlich den meisten abgehen, auf meinen Freund Harry überkommen, und so ist es ihm möglich, den Himmel und die Erde zu malen und sie mit seinem Pinsel in oft so heftige Schwingungen zu versetzen, daß auch uns, die wir die Bilder betrachten, in Anbetracht dieser gewaltigen Anstrengung, eine Ahnung von dem Geheimnis anmutet, das in ihnen unter gewaltig viel Farbe verborgen ist. Wir sehen und verstehen plötzlich die starken Energien in seinen Bildern, daß wir meinen sie deuten zu können und dann auch wieder nicht, und es bleibt uns wieder nur die Ahnung einer Vorstellung, die er, Harry der Maler, vielleicht davon hatte, als er die Wolken malte, wie einen zu einem Knäuel gewickelten Drachen, der bereits die fünf Störche verschlungen hat, die gerade noch an dem Fluß, der unbedingt dahinter fließen muß, nach Fröschen suchten. Und es waren gewiß fünf Störche, was heute nur ganz selten noch zu sehen ist, nur im Badischen kann man es sich eigentlich noch vorstellen. ­­

Mindestens fünf Störche, der genannte Fluß oder ein See und noch ganz andere Geheimnisse und überraschende Vorkommen sind verborgen hinter dem Schwarz und dem Blau und dem Grau und dem Gräulich zum Weiß. Und es ist alles in Finsternis gefangen und man weiß sofort, wenn man so ein von Harry gemaltes Bild sieht, wie ganz fürchterlich die Elemente wüten können, wenn Sturm, Wasser, Geister und Dunkelheit sich verbünden, um uns Menschen zu erschrecken. Dann aber zischt es plötzlich und faucht das Licht, das gelb über weiß einfällt, und Rot zerbirst, wenn die Sonne hinter den Regenstämmen über die Welt rollt und die Sträucher, die Stämme und alles Land entflammt hinter dem insektenbeinigen Wolkendrachen, und alle sehen, wie er durchschüttelt wird und schon flieht vor dem geborstenen Licht, und es ist sicher, daß auch die Störche wieder kommen und bucklige Hügel dahinter hocken werden und daß auch die Bäume sich wieder grün färben, mit einem Hauch von Licht auf dem Laubwerk. Und sie werden wieder Stämme haben wie vorher der Regen, und das Wasser eines Sees oder Flusses wird sich sanft kräuseln. Dann werden mein Freund Harry und ich uns einen Rastplatz suchen am Rand einer Wiese und die Störche betrachten, zu denen Harry in seinem Bild, das er dann malt, einen sechsten hinzufügen wird.

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