Harry Meyer – „foris“

von Eva-Marina Froitzheim

 Der vorliegende Katalog widmet sich neuen Bildern, an denen Harry Meyer seit einiger Zeit arbeitet. „foris“, wie die Serie betitelt ist, setzt sich in ihrer farbigen und materiellen Erscheinung von den bisherigen Reihen deutlich ab, ist aber nicht ohne Rückbezug auf die vorauf gegangenen Serien zu verstehen. Deshalb seien zunächst ein paar gedankliche Rückbezüge auf das bisherige Werk Harry Meyers erlaubt.

Die Malerei von Harry Meyer ist auf bedrängende Art direkt und unvermittelt. Es ist eine Malerei, die gleichermaßen für sich selbst sprechend und unabhängig von allen Vorbildern, wie dicht an der Realität ist, indem sie einen konkreten Gegenstand zum Ausgangspunkt nimmt.

Auf den ersten Blick ist diese Malerei von einem furor, einer Art Raserei, beseelt, der sich an der Farbe und damit am ursprünglichsten Mittel der Malerei abarbeitet. Die Farbe besitzt in den Bildern materiellen Eigencharakter, der sich auf mannigfache Art ausdrückt: Sie bewegt sich in dicken Schlieren auf der Fläche, Flammen gleich schichtet sie sich vertikal und horizontal auf der Fläche, baut sich Zentimeter dick auf, bildet sichtbare Täler und Erhöhungen. Meyer trägt die Farbe fett und rein auf. Meist verwendet er die Grundfarben: Rot, Gelb und Blau. In der Nachbarschaft zu anderen Farben wechseln diese ihre Erscheinung und Stimmung: Veränderung, Zeitlichkeit ist ein Thema, das sich mit diesen Farbexplosionen verbindet. Das Absolute, Endgültige – das lässt sich im Umkehrschluss sagen – gibt es nicht. Nicht in der Malerei, nicht im Leben.

Der Eindruck, dass diese Farbmassen ausschließlich von einer explosiven, ungezügelten Kraft hervorgebracht sind, so dass jedes Bild wie eine Momentaufnahme eines fortlaufenden Energieflusses erscheint, täuscht über ein zugrunde liegendes, strukturelles Moment, das dieser Malerei innewohnt, hinweg. Vertieft man sich in die malerische Oberfläche, erkennt man sehr schnell eine Gerichtetheit im Farbauftrag, welche die pulsierende Bewegung lenkt. Diese Gerichtetheit konkretisiert sich in der Auseinandersetzung mit einem objektiven Gegenüber; einem Gegenstand, dem Meyer sich in der Anschauung nähert und von dem er sich auf der Leinwand auch wieder entfernt. Zwar scheinen beliebige Motive die eruptiven Ausbrüche auszulösen. Tatsächlich aber ist Meyers Malerei auch hinsichtlich der Inhalte systematisch angelegt. Kontinuität und Ordnung schaffen Motivkreise, die über Jahre, ja über Jahrzehnte von Harry Meyer immer wieder aufgegriffen und variiert werden.  Meyer entwickelt sein Werk geradezu über diese Serien, an denen er teilweise parallel und teilweise versetzt arbeitet. Dazu gehören die „Köpfe“, Landschaftsgruppen wie „Berge“, „Täler“, „Wälder“ sowie eine Reihe, die der Künstler mit dem merkwürdigen Begriff „Inkubator“ belegt.

Eine der erstaunlichsten Reihen, die Meyer kontinuierlich seit 1993 verfolgt, ist dem Phänomen „Regen“ gewidmet. Der Künstler macht darin einen physikalischen Vorgang sichtbar. In breiten, tief gefurchten Bahnen senkt sich Farbe vom Himmel gen Erde wie ein Vorhang. Die breiten Pinselstriche aus aufgepeitschter roter und blauer Farbe lassen die Kraft der Natur spürbar werden. Der Anblick dieser spalierartigen Regenbahnen weckt Assoziationen an die biblische Sintflut, mit der Gott die Menschheit strafte.  Ganz entscheidend ist Meyers planvolles, kalkuliertes Vorgehen bei der Aneignung der Gegenstände oder Motive. Es gewährleistet zeitweilige Distanz und damit Korrekturmöglichkeit des malerischen Verdichtungsprozesses.  Um den späteren expressiven und exzessiven Malprozess z.B. bei den „Bergen“ zu kanalisieren, fertigt Meyer zunächst eine Vorzeichnung auf der Leinwand an. Mit Kohle entwirft er ein netzartiges Gerüst, das aus der Landschaft die wichtigsten Linien filtert. An diesem zeichnerischen Gerüst orientiert er später seine malerischen Bewegungen, immer bedrängt von der Frage, an welchem Punkt sich aus dem Sehen und Empfinden heraus auf der Leinwand ein Motiv zum Bild verfestigt.

Annäherung und Ferne – zwischen beiden Zuständen vermittelt aber letztlich die Farbe, die sich ihrerseits zwischen zwei Polen – dem der Figuration und dem der Abstraktion – bewegt. Nur indem sich Meyer zur Prozesshaftigkeit seiner plastischen Malerei bekennt und sich jedes Mal kompromisslos darauf einlässt, kann ein Bild gelingen. In allen bisherigen Serien wird ein wesentliches Kompositionsprinzip manifest: Meyer schiebt das Motiv ganz dicht an den vorderen Bildrand und verwebt es in den Farbmassen. Der Blick des Betrachters wird durch die rasante Platzierung des Motivs unmittelbar gefesselt. Zwischen Betrachter und Bild baut sich soviel Spannung auf, dass es gleichsam zu einem Funkenschlag kommt. Und es dauert eine ganze Weile, bis der Betrachter sich in die Bilder einsieht und über die nach und nach sich herauskristallisierenden Motive seine persönliche Wahrnehmung schärft. Die im Verlauf der vergangenen Jahre entstandenen Serien, die sich verschiedenen, existenten Landstrichen widmeten, offenbarten eine geradezu wissenschaftliche Akribie Meyers bei deren malerischer Erforschung. Immer ging es darum, das Wesentliche einer gewählten Landschaft, eines Landstrichs und deren phänomenale Eigenschaften herauszuarbeiten: Streuobstwiesen / Berge (als Erhebung) / Täler (als Vertiefung). Die unterschiedliche Farbigkeit bei den Serien entspricht der charakteristischen Erscheinung der Objekte und schafft mithin ein Moment der Unterscheidung.

 Über all die Jahre hat sich Meyer darüber hinaus an bestimmten Bergen abgearbeitet, deren Morphologie er genau verfolgt und erforscht. Bezeichnenderweise heißt einer seiner Kataloge „Landnahme“. Der Titel bezieht sich auf die intensive Auseinandersetzung mit einer Endmoränenlandschaft zwischen Donau und Bodensee in Oberschwaben. Für einen Umkreis von ca. 10 Kilometern in dieser Landschaft, die Meyer malerisch durchpflügte, hat er mehrere Jahre gebraucht. In der Ambivalenz zwischen gegenständlicher und malerischer Realität, in der die Bilder sich bewegen, und zusammen mit der vitalen, den Betrachter geradezu überwältigenden Farbigkeit nimmt Meyer eine besondere Position in der aktuellen figurativ-expressiven Malerei ein. Fern ab von kontextuellen Diskussionen, wie sie das Medium Malerei schon seit Jahren begleiten, entfaltet sich Meyers Malerei. Sie konzentriert sich auf die Spezialisierung, zu der das Medium selbst fähig ist, nämlich auf das genaue Schauen und Beobachten innerer Zusammenhänge, aus denen allein Erkenntnisse – in Meyers Fall über unsere Lebensgrundlage, die Natur – gewonnen werden können, und die anschauliche Sichtbarmachung dieser Erkenntnisse mit den Mitteln der Malerei auf der Leinwand. Die jüngste Serie, an der Meyer im Verborgenen seit einiger Zeit arbeitet, und die er nun der Öffentlichkeit präsentiert, stellt eine Verdichtung und Konzentration des bisher Geleisteten und Erarbeiteten dar und arbeitet sich von diesem Punkt aus noch weiter in die Tiefe.

„Foris“ ist zugleich eine radikale Selbstprüfung Meyers als Maler vor dem Hintergrund eines über Jahre gewonnenen malerischen Könnens und malerischer Erfahrungen. Sie eröffnet eine neue Dimension in seinem malerischen Schaffen, indem sie den extremen Grenzbereich auslotet, in den Malerei immer vorstößt, nämlich den Grenzbereich zwischen Subjektivierung des emotionalen Ausdrucks und malerischer Objektivie-rung eines Gegenstandes mit den Mitteln der Malerei. In der Serie „foris“ zeigt sich eine weitestgehende Lösung vom Gegenstand. Den Berglandschaften fehlt jeder erzählerische Hinweis auf Ort und Zeit. Die geologischen und morphologischen Eigenarten aller gebirgigen Landschaften, denen sich Meyer bisher gewidmet hat, scheint der Künstler komplett verinnerlicht, ja geradezu aufgesogen zu haben. Aus ihnen hat er ein archetypisches Bild gewonnen, das er in der Serie „foris“ durchdekliniert. Nur genaueste Kenntnis des Gegenstandes, bzw. des inneren Bildes, an dem sich Meyer orientiert, ermöglicht einen derart freien Fall in die Farbe. Der Bildausschnitt erweckt den Eindruck unendlicher Nähe und zugleich ewiger Ferne. Himmel und Berge sind in fast völliger farbiger Verschmelzung miteinander verwoben. Nur Betrachtern mit geübter Wahrnehmungsschärfe ist es möglich, Oben und Unten voneinander zu unterscheiden. Die Gerichtetheit der Farbe gibt Hinweise darauf, was wo situiert ist: Die nach oben strebenden Pinselstriche deuten Himmel, die nach unten gerichteten Strukturen Berge an. Wie ein dunkles Wettergrollen liegen die Farbmassen auf der Fläche. Kleinste Farbakzente setzen Lichter inmitten des Dunkel: Dort ein dunkles Violett, hier ein frisches Grün. Punktuell, von Bild zu Bild, verändern sich jedoch Ausdruck und Charakter dieser, einem „Ur-Sinn“ zuneigenden Landschaft.

Der Zusammenhang mit dem Gegenstand, sprich mit einer bekannten Landschaft, wie der Betrachter ihn bisher bei Meyer vorfand, fehlt zugunsten eines noch tieferen Eindringens in das Wesen von Natur ganz allgemein. Noch stärker als in den früheren Landschaftsserien, ist der Zusammenhang mit dem Menschen gelöst. Die „foris“-Serie betont die vulkanoide Seite der Natur. Im Heranzoomen des Motivs, welches ohne durch den Bildrahmen aufgehalten zu werden, über alle vier Seiten hinweg quillt, erweitert sich das Bewusstsein des Betrachters für das universelle Moment der Natur. Das Thema des „pars pro toto“ zeichnete zwar schon die früheren Serien aus, ist in Meyers aktueller Serie aber deutlich gesteigert.

Allein der Titel unterstreicht Meyers Intention: „foris“ klingt geheimnisvoll, ein Wort, in dem traumartige und dunkle Assoziationen mitschwingen. Ein Wort, das zugleich ein Nomen wie ein Adjektiv, eine Eigenschaftsbezeichnung, sein könnte. Tatsächlich hat Meyer das Wort aus dem Lateinischen entlehnt. Es heißt soviel wie „draußen; in der Natur“. Doch auch hier ist Vorsicht geboten, denn die Bilder dieser Serie sind keineswegs vor der Natur, sondern in der räumlichen Abgeschlossenheit des Ateliers entstanden. In ihrer motivischen Unbestimmtheit und malerischen Wucht nähert sich diese Serie, mehr noch als die früheren, dem energetischen Prinzip der Natur, dessen Furcht einflößende, letztlich unkontrollierte Kraft uns Menschen gerade in jüngster Zeit durch zahlreiche Naturkatastrophen eindrucksvoll vor Augen geführt wurde. Um dieser Kraft nachzuspüren, begab sich Meyer für frühere Serien direkt in die Natur, um mit körperlichem Einsatz das, was er sah und spürte, auf die Leinwand zu bannen. Jetzt ist er in der Lage, auf ein inneres Reservoir zurückzugreifen, das es ihm erlaubt, sich weniger dem Gegenstand als solchem als den Möglichkeiten malerischen Ausdrucks zu nähern. Um die Analyse darüber, was das Medium Malerei zu leisten imstande ist, präzise durchzuführen, drängt der Künstler in der foris-Serie die farbliche Sensation zugunsten eines malerischen Minimalismus zurück. Für Meyer ist Landschaft in einem ganz allgemeinen Sinn immer auch Entwurf des Malers. Darin bewahrt er sich seine Freiheit als schöpferisches Individuum – parallel zur Natur. Darin konkretisiert sich auch die Distanz zwischen Mensch und Natur, die auch Harry Meyer nicht überwinden kann.

„Foris“ kommt – wie alle Serien zuvor – einer Utopie des Menschen nahe, die den „Traum von der Wildnis“ träumt, wie eine Abhandlung zur Landschaftsmalerei des amerikanischen Kulturwissenschaftlers Simon Schama heißt: „Um die Wildnis rein zu erhalten, müssen wir sie in Besitz nehmen. Dies ist kein Anlass zu Schuldgefühlen, sondern verdient gefeiert zu werden.“ Die Wildnis in Besitz nehmen – das tut Meyer immer wieder aufs Neue, ohne das Geheimnis von Natur zu entzaubern oder preiszugeben. In seiner aktuellen Serie „foris“ ist er dieser Utopie bisher am nächsten gekommen. Und wir stehen verblüfft vor diesen menschenleeren Landschaften, weil sie in uns eine Frage, verbunden mit einer Ahnung wecken: Früher ging der Mensch in die Natur, um das Göttliche zu erspüren. Lässt sich heute das Numinose/Göttliche der Natur vielleicht nur noch über Malerei erleben, nachdem die Zivilisation fast vollständig von der Natur Besitz genommen hat?

Harry Meyer bewahrt in der Serie „foris“ eine Erinnerung an unsere natürlichen Wurzeln. Das gelingt aber erst im malerischen Transformationsprozess, indem er die Motive von der Realität, in der sie verwurzelt sind, löst, um ihnen eine eigenständige Realität auf der Leinwand zu verleihen. Dort wiederum sind die Motive ihrerseits verankert in zeitlosen, malerisch definierten Räumen, die auf Zustände jenseits begrifflicher und logisch-vernünftiger Erfahrungen verweisen. Also dorthin, wo die Mythen anfangen und wo der Mensch in das Reich der Träume und des Unterbewussten eintritt – mithin also in jenes Reich, in welchem er seine innere Freiheit und Kreativität jenseits wirtschaftlicher und sozial-gesellschaftlicher Zwänge entdecken und ausleben kann. Ohne erhobenen Zeigefinger oder übersteigerten Anspruch gelingt es Meyer etwas über die Welt und die Natur auszusagen. Nur mit den Mitteln der Anschauung und der Wahrnehmung, den besten und überzeugendsten Mitteln, die der Malerei zur Verfügung stehen und die deren Wahrheitsgehalt ausmachen, schafft er Bilder von seltener Eindringlichkeit, die sich jedem vermeintlich „echten“ Natureindruck ganz selbstverständlich an die Seite stellen lassen.

Zur Autorin:

Eva-Marina Froitzheim Studium der Kunstgeschichte an der Universität Köln. Promotion zu einem Thema der Niederländischen und flämischen Kunst um 1600. Parallel dazu Ausstellungen zeitgenössischer Kunst in der Kölner „Simultanhalle“. Volontariat an der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Anschließend freiberuflich tätig: Ausstellungsprojekte, Betreuung der Kunstsammlung der Bausparkasse Schwäbisch Hall. Lehrtätigkeit an der FH Schwäbisch Hall im Fach Kulturgeschichte. Seit 1996 Leiterin der Städtischen Galerie Böblingen.

 


Erde und Luft, Wasser und Feuer

Das Naturdramatische in Harry Meyers dunkler
Landschaft „mit der Lichtschlaufe“

von Rüdiger Heinze

Im Jahr 2001 begann Harry Meyer seine ersten beiden „dunklen Landschaften“ zu malen. Mittlerweile ist dieser Bildtypus auf eine Werkgruppe von rund 80 Gemälden in den Formaten 18 mal 28 Zentimeter bis 180 mal 300 Zentimeter angewachsen, die unterschiedslos den lateinischen Titel „Foris“ tragen („Draußen“, „Außenwelt“). Unter ihnen entstand 2004 die links oben abgebildete dunkle Landschaft im Format von 55 mal 80 Zentimeter. Meyer sagt, er habe hier – wie so oft – Erde und Himmel gemalt. Das Feste, Greifbare sieht der Betrachter also unten im Bild und das Gasförmige, nicht Greifbare oben. Mit solchen Worten erklärt, wird die weit und offen daliegende Erde von wüster Kruste dominiert und der Himmel von einer blauen Lichtschlaufen-Erscheinung im Zentrum. Links der Schlaufe stürzt der Himmel auf die Erde, die – tektonisch arbeitend – in Rotbraun-Tönen verhalten glimmt. Das Ganze: Teil, Ausschnitt eines imaginären Panoramas.

Doch gibt es noch eine andere Sichtweise auf dieses Bild. Deutet man dessen „Horizont“ nicht als eine viele Kilometer lange Scheidelinie in der Ferne, sondern als einen verworfenen, nur wenige Meter breiten „Uferrand“ in unmittelbarer Nähe des Betrachters, so erblickt man auf einem eng umrissenen Territorium reißendes Wasser mit einem quecksilbrig-blauen Strudel oben, unten aber eine ziehende, drängende Masse, die eine gegenläufige Fließrichtung aufweist und feurig-leuchtende Glutnester in punktierter Linie auf der linken Bildhälfte durchscheinen lässt. So gesehen, hätte Meyer in diesem „Foris“-Bild einen dritten Aggregatzustand gemalt. Nicht das Gasförmige und das Feste, sondern das Flüssige: entfesseltes Wasser oben und träge fließendes heißes Magma, erstarrende Lava unten. Das Ganze wiederum: Teil, Ausschnitt eines imaginären Landfleckens.

Ob Himmel und Erde, ob Wasser und Magma – bleibt das entscheidend? Auch in dieser Landschaft offenbart sich Meyer als ein Maler der vier Elemente und ihres Kreislaufs im aristotelischen Sinn; auch in dieser Landschaft erweist er sich als Darsteller des physikalisch-dramatischen Naturschauspiels, der – wie in seinen Regen- und Gewitter-Bildern – latent-dräuende oder sich entladende Kräfte mit gestischem Elan in eindrückliche Szene setzt. Umrissen ist hiermit, was Meyer malerisch umtreibt, umrissen ist aber noch nicht, was ihn in dieser „dunklen Landschaft“ und in seinen anderen „dunklen Landschaften“ nicht bewegt. Nur gelegentlich widmet sich die Kunstbeschreibung dem vom Künstler mit gutem Grund oder zumindest unterbewusst Umschifften beziehungsweise Vermiedenen – obwohl dieses Umschiffte und Vermiedene als regelgerecht, traditionsfortführend, idealtypisch oder wirkungserprobt zu erwarten gewesen wäre. Weder malt Meyer in seinen „Foris“-Bildern Pflanze, Tier, Mensch, noch malt er Kulturlandschaft, Behausung. Statt dessen ist seine Erde leer. Weder malt Meyer verbrämend, lyrisch, weichzeichnend im Nebel des Sfumato, noch malt er den Sonnenglast, das Flimmern der blendenden Helle, und er malt auch nicht verfremdend nach Fotovorlage. Er folgt nicht der Romantik, nicht dem Impressionismus und begleitet auch nicht die skeptischen oder ironisierenden Zeitgenossen. Vielmehr malt er außerordentlich klar, lichtbewusst, dynamisch, strukturbildend – wobei die Hüllen der Dämmerung auf seinen dunklen „Foris“-Landschaften nicht zu nachtgrauen Schattenbildern führen, sondern seine Farbnuancierungen vorantreiben.

Im aufrührerischen Bild mit der Lichtschlaufe respektive mit dem Wasserstrudel verwendet Meyer neben Preußischblau auch Coelinblau, Kobaltblau und Ultramarinblau; er nutzt die Strahlkraft und das Mischergebnis dreier Weißtöne sowie die Vielfalt diverser gebrannter Erden. Und neben grünen Farbwerten experimentiert er mit dem braunen Lack, der – mit Weiß gemischt – zu ockertönigen Aufhellungen führt, als lasierende Farbe aber auch glänzend noch im getrockneten Zustand bleibt. Dann wieder macht Meyer Farben in der Wirkung matter, stumpfer, indem er vor dem Auftrag ihren Ölanteil mittels aufsaugender Buchbinderpappe reduziert. Zu dezidiertem, sublimem Kolorit, zu vorherbestimmter Lichtreflexion kommt als bildnerische Wirkkraft noch die gezielt beeinflusste Steife der Ölfarbe: Klumpend nach mehrmonatigem Wasserbad in Gurkengläsern türmt sie sich gelegentlich geradezu körnig-skulptural auf – im sowieso reliefkonstituierenden Pinselduktus. In einem „Foris“-Gemälde vom März 2006, einer größeren Variation des Bildes mit der „Lichtschlaufe“ (70 mal 110 Zentimeter, Abbildung links unten), nun auch mit dem „verpönten“ Spachtel bearbeitet, schäumt die blaue Ölfarbe wie Gischt und ist in Erdbraun pastos zusammengebacken. Ein Bild wie aus den Schöpfungstagen der Welt, da Himmel und Erde, Wasser und Land sich scheiden.

So geht die Konsistenz des Malmittels einher mit Meyers Vorstellungen von den Aggregatzuständen der dargestellten Elemente und die Struktur seines Pinselstrichs mit den aufwerfenden Kräften unter der Haut des Bildes: extreme Temperaturen, Gravitation, Erd-Geschiebe. Inhalt gerinnt zur Form, und ein guter Teil der Kunst Meyers wirkt unter der obersten Bildschicht. So, wie der zeichnende Dokumentarist archäologischer Ausgrabungen exakter darzustellen vermag als es die Fotografie gestattet, so gelingt es Meyer, Tiefen-Energien sichtbar zu machen, die im Grunde verdeckt arbeiten. Über der im Laufe der Jahre zunehmend reduzierten Kohlevorzeichnung sind Malgeschwindigkeit, Druck des Pinsels und bis zu sechs gleichzeitig aufgetragene Farben die Voraussetzung für die haptische und energetische Wirkung von Furchen, Rillen, Erhebungen und Bergen der Farbe – mehr aber noch für die gelegentlich darübergelegten delikaten Marmorierungen.

Meyer, der 2005 alpine Schneelandschaften und halbgefrorenen, weiß-grauen Lawinen-Schlamm ins Bild fasste, hält sehenswürdig zerstörerische wie schöpferische Kräfte fest – als naturgesetzliche Kehrseite des Paradieses und der Idyllen. Dabei bedingen sich Werk und Künstlerbiographie gegenseitig – denkt man an die natürlichen Überkräfte seines Großvaters mit der Wünschelrute, denkt man an seine Kenntnisse von Elektrizität, Statik und Architektur. Er selbst sagt: „Gelesen habe ich viel an Künstler-Reflektionen, doch der Schluss war, dass mir klar wurde, ich werde mir meine eigenen Gedanken machen müssen.“ Sucht man die kunstgeschichtliche Tradition zu eruieren, in der Harry Meyer steht, ist dieser Satz also unergiebig – wie er andererseits auf ein autarkes Künstler-Bewusstsein verweist. Nähert sich solch eine selbstfordernde Erkenntnis nicht einem berühmten Verdikt von Caspar David Friedrich an? Friedrich: „Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.“ Selbstverständlich, dass Meyer sich für seine dunklen Landschaften vorerst von der Plein-Air-Malerei verabschieden musste. Seine Vision der „Foris“-Bilder ist angeregt von den Vorstellungen einer elementaren „Ursuppe“, einem vorzeitlichen Zustand, da alles noch gärte und kein Stoff und keines der vier Elemente auch nur annähernd zur Ruhe gekommen war. Gleichzeitig können seine Visionen aber auch als endzeitliche Erscheinungen einer sich katastrophisch zusammenballenden Erdatmosphäre und eines entfesselten Gesteinsflusses begriffen werden. Wie auch immer: Zum Kunstraum wird das uns Unzeitgemäße.

So verschmelzen in den hier vorgestellten zwei „Foris“-Landschaften Erdgeschichte, innere Imagination und der Beobachtungsdrang gegenüber den durchaus pittoresken Strukturen, realen physikalischen Prozessen und chaotischen Wesenszügen der Natur. Bemerkenswert, dass Leonardo da Vinci sich wiederholt mit der zeichnerischen Darstellung und mit der analysierenden Untersuchung von (an)organischen Wirbeln, Turbulenzen und Spiralen beschäftigte, solche Kraftfelder Vincent van Gogh intuitiv wiedergab, und es von Meyer, dem Maler der Lichtschlaufe, der Wolkenwalzen und der schneckenhausförmig gedrehten Sterne, auch Fotografien von 2001 gibt, die die Faszination von Wasserwirbeln und Gletschermühlen festhalten. Leonardo da Vinci schrieb einst: „Der Maler streitet und wetteifert mit der Natur. (...) Wenn der Maler Schönheiten sehen will, die imstande sind, ihn verliebt zu machen, ist er fähig, solche zu schaffen... Und wenn er Landschaften und Wüsteneien, schattige oder dunkle Orte bei der Hitze schaffen will, dann stellt er sie dar, und ebenso warme Orte in kalter Jahreszeit. Wenn er Täler will, wenn er will, dass sich von den Gipfeln der hohen Berge aus das weite Land hinstreckt, und wenn er dahinter das Meer am Horizont sehen will, dann liegt all das in seiner Macht; und ebenso, wenn er von den tiefen Tälern aus die hohen Berge und von den hohen Bergen aus die tiefen Täler und Strände sehen will. Alles, was als Wesen, als Dasein oder als Vorstellung im Weltall da ist, hat er zuerst in seinem Kopf und dann in seinen Händen...“

Leonardo da Vincis Sätze lesen sich nahezu wie ein verborgenes Programm von Harry Meyers Malerei. Manches ist in ihnen gedanklich zusammengefasst, was Meyer in seinen Bildern praktisch konzentriert: die Extreme von Klimazonen, Tag und Nacht, Vogel- und Froschperspektive – und die innere Vorstellung. Daneben tritt hinzu: Meyers naturwissenschaftliches Interesse, sein Gestalten der durchdringenden Energien und Wirkkräfte des Bildes hinter dem Bild, sein handgreifliches Schichten und malendes Modellieren von Materie, sein Anschlagen vieltöniger Farbakkorde. Der Hellhörige indes empfängt in den „Foris“-Landschaften noch einen zusätzlichen Sinneseindruck: das beständige Rauschen und Stöhnen, das Brodeln und Knirschen der Elemente. In Einklang bringt Meyer das Naturdramatische mit dem Kunstwahren.

 

Zum Autor: Rüdiger Heinze wurde 1956 in Zwickau/Sachsen geboren. 1977 bis 1982: Studium der Orchestermusik und Studien der Musikwissenschaft in Frankfurt am Main. Seit 1983 Redakteur der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Essays für Programmhefte, Kunst- Kataloge sowie Beiträge für Bücher über die Sinfonik zwischen Haydn und Mahler (Bärenreiter/dtv).