Berge versetzen

von Brigitte Herpich

Im April des Jahres 1336 schreibt der Dichter Francesco Petrarca einen Brief an seinen väterlichen Freund, den Augustiner-Mönch Francesco Dionigi, worin er diesem die von ihm jüngst zusammen mit seinem Bruder unternommene Besteigung des Mont Ventoux in der Provence schildert. Im einleitenden Abschnitt heißt es:
„Dieser Berg aber, der von allen Seiten weithin sichtbar ist, steht mir fast immer vor Augen.“ – Dieser Satz stellt beide Formen menschlichen Sehens, die äußere Sinneswahrnehmung wie die innere Reflexion vor dem geistigen Auge, nebeneinander und impliziert ihre Gleichberechtigung sowohl wie ihre innere gegenseitige Bezogenheit und Wechselwirkung.

Die beiden vorgestellten Berg-Bilder Harry Meyers, in ihrem augenfälligen Kontrast von Farbigkeit und Schwarz-Weiß bzw. Hell-Dunkel, verdeutlichen eben denselben Prozeß von Sehen, Gedankenarbeit, Erkenntnis als deren Resultat, und von erneutem Wieder-Sehen, unter Einbeziehung und Anwendung der durch das erste, ursprüngliche Sehen gewonnenen Erkenntnis. Harry Meyer verwendet als Gegenstand für diesen seinen systematischen Erkenntnisprozeß aus mehreren Gründen den Berg. Als massive sich vor dem winzigen Menschen auftürmende Gesteinsformation steht er für Alter und Beständigkeit – wenn nicht gar Ewigkeit – in einer von Veränderung und Veränderlichkeit geprägten Welt. Wenn auch die gigantischen Kräfte, die im Laufe der Erdgeschichte zur Aufwerfung der Gebirge geführt haben, gewöhnlich dem menschlichen Vorstellungsvermögen entzogen sind, so eröffnet sich doch durch die Naturgewalt, die in einem Vulkanausbruch oder einem Bergrutsch wirksam wird, eine Ahnung davon – der Berg, der beständige, wirft sein Innerstes nach außen und gibt es, zwar erzwungenermaßen, dem Blick frei.

Der Maler Harry Meyer wiederholt diesen Vorgang: auch er erschüttert Bestehendes, indem er es kompromißlos, ohne Schonung auch gegen sich selbst, hinterfragt, es gleichermaßen „seziert“: das Ölbild „Berge“ zeigt diese in einer noch relativ vertrauten Weise; grüne Almwiesen und dunkle Tannenforste können noch assoziiert werden, und so die ersten verstörenden Eindrücke (durch bei näherem Hinsehen auftauchende bodenlose Abgründe und Risse an der Oberfläche) noch einmal kompensieren. Die schwarz–weißen „Berge“ sind eine konsequente Weiterführung des „Sezierens“, des Offenlegens im Prozeß der Erkenntnis: Reduziert um die dem menschlichen – äußeren wie inneren! – Auge eher gefällige Farbigkeit, bloßgelegt vom „Fleische“ des Erdbodens, zeigen sie nur noch das Wesentliche: Felsen und Steine als die “Gebeine“ der Erde, als das Gerüst und „Skelett“, als das, was dem ganzen die grundsätzliche Struktur und Ordnung verleiht. Diese Ordnung legt Harry Meyer frei, indem er ihr folgt und alle Verschüttungen des Überflüssigen entfernt.

Die ultimative Aufforderung, es ihm gleichzutun, ergeht auch an den Betrachter, der sich von liebgewonnenen und vertrauten Bildern und Vorstellungen langsam, aber unaufhaltsam lösen muß. Er muß, wie vor ihm der Maler, lernen, „Berge zu versetzen“; mit anderen Worten, er muß lernen, sich der anfangs scheinbar unüberwindlichen Aufgabe zu stellen, die eigenen Grenzen des Bekannten und vermeintlich Bewährten zu erweitern bzw. neu abzustecken. Harry Meyer unterstützt ihn dabei mit dem Verweis auf die Natur des Berges, welcher trotz aller Beschwerlichkeit der Herausforderung auch Anknüpfungspunkte bietet, indem er dem Menschen durch seine feste Verankerung in der Erde und durch seine gleichzeitige Nähe zum Himmel als Verbindung zwischen verschiedenen Welten dienen kann. Seit alters her empfindet der Mensch diese besondere Affinität zu den Bergen, was sich nicht zuletzt dadurch äußert, daß er ihnen organische, ja menschliche Attribute zuweist: Erze und Edelmetalle durchziehen den Berg als Adern, menschliche Behausungen finden sich an seinem Fuße, und man wandert auf seinem Rücken. Vor allem anderen aber ist es seine zweifache Natur – Objekt zu sein und von Wasser, Wind, Erosion und Vulkanismus geformt zu werden, wie gleichermaßen als Subjekt und Transformator der auf ihn wirkenden Elemente selbst seine direkte Umgebung zu beeinflussen –, die dem Menschen Bestätigung seiner selbst vermitteln kann: denn welchen Menschen gäbe es, der sich nicht gegensätzlich zu sich selbst verhielte?