Aus dem Museum – In das Museum“

von Brigitte Herpich

 

„Die Flut zerfrißt und verschleißt das Kiesbett, die Geschichte höhlt den Fels aus und steigt immer tiefer hinab, fährt wie eine Klinge in die zerfurchte Kugel, die im Weltraum rotiert, eines schönen Tages werden die Schnitte bis zum Mittelpunkt der Erde gehen und die Stücke der aufgeschnittenen Wassermelone alle ihre eigenen Wege gehen.“ Claudio Magris, Microcosmi – Die Welt en gros et en détail, 1997

Geschichte geschieht, und Geschichte verändert die Welt, sagt Claudio Magris – und er deutet weiter an, wie gravierend diese Veränderung sein kann: Was ehemals zusammengehörte, ist durch den darüber hinweggefegten Sturm der Zeitläufte voneinander getrennt; so sehr, daß es nicht mehr zusammenzuwachsen vermag – und gleichzeitig aber nagt der Zweifel: Ist das dergestalt Getrennte überhaupt lebensfähig, oder sind die vereinzelten Teile unrettbar dem Verfall geweiht?

Diese vordergründig pessimistisch erscheinende Darstellung einer Trennung mag in den Sinn kommen, wenn Harry Meyers zeitgenössische Kunst aus der Zeit der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert ein Museum betritt, dessen Kunstschätze den lebendigen christlichen Glauben und die tief verwurzelte Volksfrömmigkeit einer lange vergangenen Epoche dokumentieren. Der moderne Mensch steht dem Sakralen in vielfacher Hinsicht sehr ferne, der Glaube ist ihm abhandengekommen, die religiösen Gebrauchsgegenstände seiner Vorfahren sind ihm lediglich Relikt. Aber auch sein Vertrauen in viele Heilsversprechungen ist längst enttäuscht: Der Mensch hat die Emanzipation von den Bevormundungen – auch seitens der Kirche und ihrer Repräsentanten – vollzogen, um inmitten einer größtmöglichen Freiheit oftmals unbehaust und obdachlos zu existieren, sein Leben nicht selten zerlegt in biographische Nano-Partikel, „Lebensabschnitte“ genannt.

Harry Meyers, des modernen Menschen, Kunst, im Museum der Kirchenschätze aus einer anderen, vergangenen Zeit: Es stellen sich die Frage und die Aufgabe der Zusammenführung! Begeben wir uns zunächst auf die Spur der Worte: Zedler’s „Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste“, Bd. 22 (1739), verweist unter dem „MVSEVM“ zuerst auf den Tempel zur Verehrung der Musen und auf das Haus der Gelehrten, sowie die daraus folgende jüngere Bedeutung des Studierzimmers; sodann aber bereits auf eine „Kunst-Kammer, ein Müntz-Cabinet, Rarität- und Antiquitäten-Kammer, wovon unter besondern Artickeln nachzusehen“ sei – sowohl die Kunst, ebenso wie die Rarität oder die Antiquität, wird auch der Mensch des 21. Jahrhunderts jedenfalls mit dem Museum in Verbindung bringen. Und tatsächlich lesen wir unter dem Stichwort „Kunst-Kammer“ folgende Definition: „Kunst-Kammer / lat. Museum, Frantz. Cabinet, ist ein zusammengebrachter und wohlgeordneter Vorrath von allerhand Seltenheiten der Kunst / als von Mahlerey / Bildhauerey / Tischler / Drechsler / Goldschmiede / Uhrmacher / Spiegel – und anderer dergleichen Arbeit / wobey gemeiniglich auch die Seltenheiten der Natur gefüget werden / dergleichen in Fürstlichen HofLagern / bey grossen Städten / hohen Schulen / auch wohl privat-Häusern hin und wieder angetroffen / und von Durchreisenden mit Lust besuchet werden.“ – Diese Auskünfte, obwohl nachvollziehbar, führen jedoch noch nicht viel weiter hinsichtlich der gestellten Aufgabe, die Risse oder gar Klüfte einer auseinanderlaufenden historischen Entwicklung zu kitten und wieder zusammenzuführen.

Unter dem Stichwort „Raritäten-Cabinet“, welches zunächst ebenfalls auf den Charakter der Sammlung, und, dem Wortsinne folgend, auf die Seltenheit der darin befindlichen Objekte verweist, finden sich im Anschluß daran einige wesentliche Hinweise, die es wert sind, näher betrachtet zu werden. Zum einen wird sinngemäß betont, daß die in der Sammlung dargebotenen Schätze in zahlreichen Fällen den Menschen als Vernunft- und als Gemütswesen (in seiner Ganzheit also!) ansprächen und so mehr erreichten als wissenschaftliche Werke, die ausschließlich auf den Intellekt ausgerichtet seien. Des weiteren wird der Leser aufgefordert, anspruchsvolle Sammlungen – zum Beispiel auf Reisen – gezielt aufzusuchen und nach Möglichkeit mehrmals zu begehen. Als Qualitätskriterium sollte dabei unter anderen auch die „Ordnung“ bzw. Anordnung der Exponate gelten.

Und schließlich wird empfohlen, eine Schreibunterlage mitzunehmen, um Denkwürdiges festhalten und zu dauerhaftem späterem Nutzen aus der Ausstellung mitnehmen zu können. Noch einmal zusammengefaßt: Der Mensch in seiner gesamten, umfassenden Wesenheit – die aktive, stetig wiederholte und erneuerte Auseinandersetzung mit dem Gegenstand – der Begriff der „Ordnung“ – die Fixierung und Haltbarmachung des Eindrucks – und schon stehen wir, aus dem Museum kommend, im Zentrum der Kunst Harry Meyers! Man könnte die bisherigen Ausführungen über die Begriffe des „Museums“ und des „Kabinetts“ ergänzen um den Ausdruck des „Speichers“, in welchem Nahrung, jedoch auch Energie oder Information, aufbewahrt werden, um sie zu einem späteren Zeitpunkt zu verwenden. Harry Meyer hat diese verschiedenen Speicher zeit seines Lebens genutzt: Er hat Museen besucht, Bücher gelesen, die freie Natur, aber auch die seit Jahrtausenden kultivierte Landschaft sich erobert, er hat sich mit Menschen auseinandergesetzt, den Speichern von Information schlechthin – und er hat seine und anderer Erfahrungen verarbeitet – er hat Historie verarbeitet; ist diese doch nichts anderes als die Gesamtheit aller Erfahrung. Er hat sozusagen aus dem „Archiv“ menschlichen Handelns als auch aus dem „Archiv“ natürlicher bzw. naturgesetzlich terminierter Geschehnisse geschöpft; wobei die Vokabel des Archivs hier bewußt gewählt ist: Bereits Zedler (hier: Bd. 2, 1732) betont, daß, was aus einem „Archiv“ als einem öffentlichen Ort komme, Beweiskraft, zumindest Glaubwürdigkeit, aus dieser Herkunft beziehe! Es sei nun dahingestellt, ob besagte Glaubwürdigkeit grundsätzlich gegeben sei; in der Kunst Harry Meyers kommt ihr definitiv eine tragende Rolle zu: Wahrheit ist für ihn eine ethische, nicht eine logische Fragestellung!

Nicht von ungefähr kommt es daher, daß Meyer, als er sich im Jahre 2003 erfolgreich dem Wettbewerb um den Lucas-Cranach-Preis der Cranach-Stiftung Wittenberg stellte, das Motiv „Mund der Wahrheit“ einer Wiederaufnahme und Bearbeitung unterzog. Dem „Mund der Wahrheit“ oder der „Bocca della Verità“ wird die Fähigkeit zugesprochen, Lügner zu entlarven: Wer als Lügner seine Hand in den geöffneten „Mund“ legte, sollte sie unwiederbringlich verlieren!

Die Arbeit an der Vorgabe eines der Alten Meister ist gewiß zunächst einmal ein Schöpfen aus dem „Archiv“ – Cranach auszuwählen, ist viel mehr: man weiß, daß er, des Lateinischen mächtig, viele der in dieser Sprache verfaßten Sentenzen und Zitate, welche seine mythologischen Darstellungen begleiteten, in ihrer Bedeutungstiefe sehr gut verstand und differenziert einzusetzen vermochte. Unter dem didaktisch hervorragend aufbereiteten Deckmantel moralischer Unterweisung setzte Cranach, mancherorts ironisch und sicher nicht gegen den Willen seiner höfischen Auftraggeber, sinnliche Erotik ins Bild – auch ein Exempel für den Umgang mit Glaubwürdigkeit und Wahrheit, welche vom Mächtigeren für sich selbst großzügiger angewandt wird als für andere. Erwähnenswert übrigens ist dies vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die Bezeichnung „Mund der Wahrheit“ im Mittelalter für hölzerne Kästen genutzt wurde, in die man schriftliche Hinweise auf den sündhaften Lebenswandel seiner Mitbürger einwerfen konnte – Hinweise, die mit Sicherheit genauerer Untersuchung oft nicht stand- gehalten hätten, der Ablenkung von den Verfehlungen der Denunzianten jedoch trefflich gedient haben mögen.

Harry Meyers Werk „Rete“ (Abbildung S. 15) steht ebenfalls unmittelbar in dem geschilderten Zusammenhang: Zum einen kann es als die Verstrickung des Individuums in die Folgen seines eigenen Tuns gesehen werden, die es nicht mehr beherrschen kann; zum anderen als das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen dem Einzelnen und den Individuen seiner Lebenswelt; des weiteren als das Spinnen-Netz aus Unwahrheit und übler Nachrede, in welchem es bewegungsunfähig gefangen sitzt. Einen weiteren Gesichtspunkt aber gibt es, der die Zeiten überspannt: Die Verbindung und Vernetzung des jüngeren mit dem älteren Künstler gelangt auf dem Werk zur Darstellung. In dem Moment, in welchem Meyer das Cranach’sche Bild betrachtet und seine individuelle „Wahrheit“ aus ihm bezieht; in dem Moment, in dem der gegenwärtige Rezipient Meyers Bild wahrnimmt; und wiederum in demjenigen Moment, in welchem ein Betrachter der Zukunft Cranachs oder Meyers Werke im Museum sieht – und vielleicht seinerseits Kunst daraus entstehen läßt –; in solch seltenen Augenblicken im Zeitmeer scheint der Lauf der Geschichte angehalten, es verwirklicht sich die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die Intensität sowie die Stärke des Dialogs zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wachsen dabei proportional zu seiner Selbstverständlichkeit – eine Selbstverständlichkeit, die sich bei Cranach und Meyer mit einer Gewißheit, welche sich eher erspüren als rational erfassen läßt, um so verläßlicher einstellt. Wer sich nun seinem Gespür für die aus den Zeitläuften herausgelösten Knotenpunkte (um im Bild der „Rete“, der „Netze“, zu bleiben) anvertraut, wird, daran entlang die Fäden verknüpfend, auch das Zwiegespräch zwischen den Werken Harry Meyers und den Exponaten des Museums zu Eichstätt erlauschen können. Es ist dabei allerdings bei vielen Ausstellungsstücken der Versuchung des Verweilens bei der Ästhetik zu widerstehen; stammen diese zum Beispiel aus dem 17. Jahrhundert, so möglicherweise auch aus der Zeit des 30jährigen Krieges, dessen unvorstellbare Greuel sich hinter ihrer Schönheit verbergen. Auf die „vestigia vitae“, um einen Ausdruck des Barock zu verwenden, auf die „Spuren des Lebens“, vielleicht nur auf „Reste des Lebens“, ist zu hören, wenn man sich ihnen stellt, auf Verzweiflung, Todesangst, aber auch Inbrunst des Gebets und Hingabe an den Schöpfer. Wiedergefunden und wiederzufinden sind diese Aspekte menschlicher Existenz und menschlichen Leids in Harry Meyers „Köpfen“, in den Bildern der Werkreihe „Inkubator“ und „Transit“ (Abbildungen passim); auch in der Darstellung der „Figurabilitas“ (Abbildung S. 19), in welcher nicht der Mensch Gestalt annimmt, sondern sein Ausgeliefertsein, das die übernatürlich großen, wie in Abwehrhaltung in Richtung des Betrachters ausgestreckten Hände, dennoch nicht abwenden können – vielleicht auch gar nicht abwenden wollen?

Es sei, in der Begegnung mit den „Köpfen“, in denen uns Menschen, Individuen, gegenüberstehen, an einen Gesichtspunkt erinnert, der gerade in einem von der Kirche getragenen Museum von Bedeutung ist. Seit dem hohen Mittelalter hat die Kirche aus bestimmten menschlichen Schwächen, neutraler formuliert: aus bestimmten menschlichen Verhaltensweisen – die wohl niemandem unvertraut sind – sieben Todsünden geformt. Vielleicht mag es auf den ersten Blick befremdend sein – aber steht nicht Harry Meyers blutiges Rot für die immerwährende Hilflosigkeit des Menschen gegenüber seiner eigenen, entfesselten Gewalt, seiner zornigen Raserei? Verkörpert nicht das Maskenhafte, das hinter sich selbst sich Verbergende, eine moderne „superbia“, eine Unfähigkeit zur zwischenmenschlichen Beziehung, resultierend aus grenzenloser Selbstüberschätzung? Und bedeutet „acedia“, die Trägheit, nicht ein Übermaß an Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst und anderen, ein Desinteresse am Leben, ein Wegwerfen des Lebens zu einer Zeit, da es noch gar nicht beendet ist? Dies alles gehört zum Bild des Menschen, das uns der Künstler vorstellt – dem uns zu stellen er uns hier und jetzt an diesem Ort zwingt. Denn der Faktor Zeit verändert die Materie fortwährend – manches Menschliche aber bleibt immer gleich.

Literatur