Von weißem Farbrausch und Kraft der Stille
Fiktive Gesprächsbeobachtung zu den Schnee-Bildern von Harry Meyer

von Dr. Melanie Klier

„In den Bergen ist Freiheit.“
Friedrich Schiller

„Hier stehe ich. Alleine. Hoch droben. Umgeben von nichts als Weiß. Es ist still. Menschenleer. Kein Laut zu hören. Die Schneemassen haben alle Akustik geschluckt. Glasklar, die eisige Luft. Die Rundsicht auf die Gipfel ist phänomenal. Föhnlage. Schroffe Bergkämme voller frischem, glitzerndem Neuschnee. Dazwischen Gletscherfelder in milchigem Türkis. Ich muss los. Rein in den Hang. Der Erste sein. Ihn durchpflügen, den massigen Firn. Eintauchen in die Leichtigkeit des pulvrigen Weiß, bis es staubt!“
So spricht er, der Wintersportler vor den Gemälden von Harry Meyer. Den gewaltigen Bilderwelten, durch welche der Farbauftrag zentimeterdick flutet und wild-expressiver Gestus rauscht.
Von Sehnsucht ist er erfüllt, im Betrachten all der Schneebilder, die eine ungeheuerliche Palette der eigentlichen „Unfarbe“ Weiß eröffnen: Leuchtendes Weiß. Schmutziges Weiß. In pastelliges Rosa, Gelb und Grün getauchtes Weiß. Geschwärztes Weiß und weißes Schwarz. Wenn er sie ansieht, der Bergfex, die vielen, sich dicht pastos auftürmenden Farbmassen und plastische Farbgrade auf den Leinwänden, kommt sie hoch: die Erinnerung des Schnee-Erlebens. Die buchstäbliche „Er-Fahrung“ der Naturgewalten auf den Brettern, den Skiern, dem Board. Unverstellt und deutlich und in haptischer Geballtheit.

„In der Tat“, pflichtet die Kunstliebhaberin bei, „es ist fabelhaft, wie einfallsreich der Künstler mit der Materialität von Farbe umgeht und sie zum Kern seiner künstlerischen Auseinandersetzung macht. Wie er Farbe mischt und in seiner Bildkonzeption zu Gebilden vermengt. Sie in Verdickung auftürmt zu hohen, majestätischen Farbbergen. Wie er Farbgesten Schicht für Schicht über- und hintereinander stapelt zu ganzen reliefartigen Farbgipfelverkettungen, Farbgebirgen mit begehbaren Tiefen, Flächen, Wegen. Wie er Farbe formt und streicht, presst und ballt, verwirbelt und niederdrückt zu variantenreichen Schnee- und Berglandschaften - aus der Distanz gesehen! Zu Materialbilder aus der Betrachternähe. Faszinierend, wie Meyer aktiv seine Natureindrücke umformt zu neuer Bildrealität - immer ohne eine Seele, doch niemals seelenlos.“
„Und dort“, kontert der Wintersportler, und deutet auf ein auf Weiß und Schwarz reduziertes Gemälde, „hat sich der Schnee über alles gelegt, alles geschluckt. Unter seiner milchig weißen Decke schlummern Bäche und Sträucher, kleine Brücken und Weiden. Hier herrscht nur die weiße Farbfläche, durchfurcht von dünnen, schwarzen Linien. Wie frisch gespurt. Und man „Ich denke“, antwortet die Kunstliebhaberin, „der Maler zeigt uns hier, wie er ungeklärten Dingen formal nachgeht. Wir sehen, wie Sie sagen, nur noch schwarze Spuren in der bildfüllenden, völlig monochromen, weißen Malfläche. Er hat, so meine ich, die Leinwand schwarz grundiert, dann mit einer weißen Schicht dick überzogen und die Naturerfahrung schlussendlich mit dem Malmesser herausgeschält, herausgeschnitten. Negativ gearbeitet, wenn man so will. Meyer will buchstäblich malerisch Land gewinnen. Land einnehmen. Einen bekannten Naturraum in einen Kunstraum übertragen, der sich eben so oder so in seiner Erinnerung eingebrannt hat.“
„Das könnte passen“, erklärt der Galerist. „In einem Katalog kann man folgendes von Harry Meyer lesen: ‚Wenn, es gelingt, diesen "Kunstraum" eine entwickelte Ordnung einzuschreiben und diese um ein Koordinatensystem zu erweitern, um es in den erweiterten Bildraum einzuführen, wäre es möglich, innerhalb und außerhalb dieser jetzt herrschenden >>neuen<< Anatomie den eigenen Ort, von dem aus wir unsere Fragen stellen und können, zu finden und zu definieren. (…) Der bekannte Landschaftsraum wäre dann in ein erlebbares >>Bild<< des gleichzeitig vorhandenen, dahinter liegenden geistigen Raums überführt.’“ erkennt die Bergwipfel in Form von Silhouetten. Wenn der Schnee lang genug fällt, wird die schroffste Landschaft geglättet.“

„Für mich ist dieser erlebte Kunstraum, von dem Sie sprechen, vom Maler sichtbar begangen und für den Betrachter absolute Naturerfahrung“, bemerkt der Wintersportler. Ich kann beinahe jede Art und Konsistenz von Schnee in die Kunst hineindichten: alten Schnee und Verwehungen von lockerem Champagner-Powder. Nassen, schweren Sulz genauso wie die besonders massive Sicht aus Eisschnee, den Bruchharsch. Auch Schneematsch, glaube ich fassen zu können oder wiederholt gefrorenen Firn. Übrigens gibt es auch ein Gemälde mit sogenanntem ‚Blutschnee’. Leicht rot gefärbt ist das Weiß, wie wenn Staub mit dem Fönwind aus der Sahara in die Alpen getragen wurde.“
„Ist es nicht überhaupt spannend, wie Harry Meyer Weiß zu seinem künstlerischen Erprobungsfeld funktionalisiert, um selbst seine Mal- und Materiallandschaften zu erwandern?“, fragt die Kunstliebhaberin und wendet sich bedeutungsschwanger an den Galeristen. „Ein Gemälde, hauptsächlich in Weißnuancen gehalten“, antwortet dieser, „gibt dem Künstler kaum die Möglichkeit zum Aufbau verschiedener Farbkontraste, wie dies in vielfarbigen Gemälden der Fall ist. Je weniger Kontrast, desto weniger Anhaltspunkt gibt es für den Maler, seinen eigenen Standpunkt zu finden und zu fixieren. Das ist, denke ich, die Herausforderung.“

„Lawinenhänge, und schroffe Felsformationen. Darüber hinweg fegende, wüste Wolkengebilde. Malfluten, die als bedrohliches Moment den Berg herunterdicken und an Lawinenhänge erinnern. Verwirbelungen und Wege, die sich durch die Farbmasse pflügen. Das ist das eine. Doch der Maler abstrahiert andererseits aus der imaginierten Topografie, um der Urgewalt Malerei zu begegnen. Spuren im Schnee werden Malspuren. Wolkenformationen und sich aufbauschenden Schneemassen spiegeln das künstlerische Spiel mit der Farbmasse wieder. Schnee als Titelgebung meint den formalen Kampf mit der weißen Materialität und gerinnt zum ungebändigten, aufgewühlten Farbereignis. Kurzum: Vielleicht will der Maler ja in einem ungelösten Zustand geklärte Gedanken einfrieren und festhalten?“, sinniert die Kunstliebhaberin.

„Sie meinen also“, fragt der Wintersportler, „dass Naturgewalten und veränderte Aggregatszustände von Wasser das künstlerische Kräftespiel einer griffigen Form- und Farbsprache des Malers wiedergeben?“ „So soll man den Maler sicher verstehen“, bekundet der Galerist. „Seine Landschaften sind keine Seelenlandschaften, wie bei einem Casper David Friedrich. Und noch fungiert die gestische Dynamik als Marginalie zwischen Innen- und Außenwelt. Gerade in seinen Schnee- und Bergpanoramen kann uns Meyer mitnehmen, auf seine plastische Gratwanderung zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Sehen Sie hier, diesen Baum im Winter.“ „Es ist nicht ein einfacher Baum“, hakt die Kunstliebhaberin ein, „es ist ein festgehaltener Energiefluss, wie schon in den Regenbildern von Harry Meyer. Die Malspuren ziehen als eingefrorene, zur Erde hinabfallende Regenspuren auf der Leinwand ihre Bahn. Dort kreist die malerische Dynamik in horizontaler Bewegung weiter, wie unsichtbare Kraftlinien der Natur und gewiss auch wie die unerschöpflichen, nicht ruhen wollenden Assoziationen des Malers zum Reichtum der Naturgestalten. Ich denke, er setzt sich einem Rausch aus: Der Schnee als kristalline Form des Wassers, mit anderer Anmutung und Kraft der Stille. Ein stiller Rausch der elementaren Materialität zum einen und dem des Materials zum anderen.“
„Na dann, meine Herrschaften“, schließt der Galerist, „kann ich jetzt begreifen, warum unser, den Winter liebender, Bergfex es genießt, in die Schneebilder von Harry Meyer einzutauchen. Wie in diesem Gemälde hier. Auf welchem man die weißen, den Betrachter umtosenden Farbmassen als Gischt empfinden kann, und so in den Schneemassen ersäuft“. „In den Bergen ist Freiheit“ - schließt kunstsinnig der Wintersportler.

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