Wurzeln schlagen

Brigitte Herpich

„Was immer er erlebt, schießt in die Höhe wie Bäume. Ist es das, was man die mythische Fähigkeit nennt? Sind diese Bäume die Mythen, oder einige von ihnen, oder einer? Welche? Gehören Blätter dazu, und was ist der nackte Baum? Manche nennen es anders und sagen statt Wachsen Übertreibung. Aber es schießt nicht nur hinauf, es greift nach allen Seiten aus, verbindet sich, verwickelt sich, verquickt sich mit anderem. Das Wuchern ist das Wichtige, aufs Wuchern kommt es an, Verwechslungen gehören dazu, Umarmungen und Unterwanderungen.“

Elias Canetti, Nachträge aus Hampstead, Aufzeichnung aus dem Jahr 1969

 Was auch immer Elias Canetti im einzelnen inspiriert haben mag zu seinem Aphorismus über das Wesen der Bäume – Harry Meyers großformatiges Baumgemälde aus dem Frühsommer 2010 kann es definitiv nicht gewesen sein. Erstaunlich – visualisiert dieses Bild doch eindrücklich wesentliche der von Canetti beobachteten Eigenschaften: Der Baum, zentral im Bild verwurzelt, greift mit seinen Ästen gleichsam wie mit Fingern aus dem Bild und über den Bildraum hinaus – er er“greift“ auch den Betrachter. Es handelt sich, an Wuchs und Gestalt ersichtlich, um einen Laubbaum, der jedoch momentan, im Winter, kahl ist: Mit anderen Worten: er ist nackt, entblößt, bloßgestellt gar? Seine Wurzeln stehen wie auf einer Insel, sie bilden eine solche; der Baum wird zur Insel in einer Eisfläche, im gefrorenen Wasser eines Weihers, eines Teiches, oder eines Ozeans? Offenkundig: dieser Baum ist mehr, als er ist! Wer nun, mit dem Blick auf dem Bilde wandernd, innehält und sich erneut Canettis Wahrnehmung der Bäume vergegenwärtigt, wird, noch unter dem Eindruck der mehrfachen Bedeutungsebenen, auf die der Maler verweist, spätestens jetzt der Ambiguität: gewahr, die aus des Dichters Worten spricht: redet Canetti vom Baum oder vom Menschen – von sich selbst vielleicht –, sind die beschriebenen Wesenszüge essentiell für den Baum, den Menschen, oder für beide; oder kann man es gar nicht unterscheiden? Wobei der Begriff des „Unter“scheidens wohl nicht mehr meint als das jeweils Separate wahrzunehmen; den Schritt zum „Ent“scheiden, mit der Implikation des Endgültigen und der Wahl zwischen zwei Alternativen, diesen Schritt würde sich Canetti, reich an scharfsinniger Beobachtungsgabe und an Jahren, nicht anmaßen – nur zu gut haben ihn Lebenserfahrung, lebenslanges Denken und geistig-schöpferische Arbeit gelehrt, daß fortschreitende Erkenntnis letztendlich die Fragen vermehrt, nicht die Antworten. Festzuhalten bleibt: Dichter und Maler haben sich mit dem Motiv des Baumes denselben Gegenstand erwählt; und den Resultaten der schöpferischen Arbeit beider eignet, daß eine hohe Affinität zwischen „Baum“ und „Mensch“ in ihnen zum Tragen kommt. Ausreichend Anlaß jedenfalls, sich eingehender der Frage zu widmen, welcher Art die besondere Beziehung zwischen Mensch und Baum sei; oder, ein wenig anders gelagert, was genau eigentlich das „Menschliche“ am Baume sei? Die tiefgreifende und Jahrtausende alte Bedeutung des Baummotivs für den Menschen, widerhallend in Mythos, Legende und Religion, ist hinlänglich bekannt und braucht nicht im einzelnen referiert zu werden. Neben anderen, erscheint mir eine Qualität des Baumes wesentlich dafür zu sein, daß sich der Mensch zu ihm, vor allem auch zu seiner „natürlichen“, meint: nicht domestizierten, Form besonders hingezogen fühlt. „Baum, lat. Arbor, Französisch Arbre. Ist das größte und ansehnlichste Gewächs, so die Erde hervor bringet … Was aber die wilden Bäume betrifft, welche durch göttliche Allmacht ohne Zuthuung des Menschen ihren Stamm viel höher, gerader, stärcker und ansehnlicher treiben und so herrlich wachsen; so haben dieselben deshalben unstreitig einen weit grössern Vorzug vor denen zahmen“, schreibt der Enzyklopädist 1733. Diese angesprochene Qualität nun ist die Gestalt-Analogie, mit anderen Worten: die „aufrechte Haltung“.

 Der Mensch nimmt seine eigene Körperlichkeit analog zum Baume wahr – und umgekehrt; spezifische Körpererfahrungen wie Oben-Unten, Links-Rechts, aber auch die „Verzweigung“ in Extremitäten, sind ihm vertraut, nicht fremd, er erkennt sie wieder und fühlt sich in gewisser Hinsicht wie von seinesgleichen angezogen. Gewiß, auch der Berg, und sein kleiner Bruder, der Fels, stehen aufrecht auf der Erde und streben nach oben – aber: in ihrem Werden und Vergehen tektonischer Zeitrechnung unterworfen, leben und wachsen sie nicht, jedenfalls nicht nach Maßstäben, die menschlicher Zeiterfahrung und -empfindung wirklich zugänglich wären. Ganz anders der Baum: nicht allein erinnern seine Äste an Arme, sein Laub an Haar und der Stamm an den Rumpf – von großer Wirkkraft schon dieses. Um vieles faszinierender noch für menschlichen Geist und menschliche Imagination ist die Art und Weise seines Wachsens, seines ureigensten Lebensrhythmus’. Im jahreszeitlichen Zyklus erwacht der Baum zum Leben, erlangt den Zenith der Reife, und stirbt. – Eben nicht! Er ruht nur, denn „göttliche Allmacht“, so Johann Heinrich Zedler’s „Universal-Lexicon“, läßt ihn im darauffolgenden Frühling neu ausschlagen. Und noch etwas hat der Baum uns Menschen voraus: er ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in quasi einer Wesenheit! Seine Wurzeln sind uralt, ebenso belegen die Jahresringe den Prozeß seines Alterns; junge Triebe und Blätter stehen für das „Jetzt“; und die Zukunft ist eingebettet in eine winzigkleine Frucht oder Samenkapsel. „Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehen: die Zeit kehrt zurück in die Schale“ schreibt Paul Celan im Gedicht „Corona“; während Gaston Bachelard in seiner „Phänomenologie des Runden“ für ebendieses Phänomen die meisterhafte Formulierung findet: „das Dasein sammelt sich um seinen Mittelpunkt“.– Wie armselig mag sich doch an diesem Punkt der Mensch vorkommen, der für seine Vergangenheit und Zukunft des – gealterten oder noch kindlichen – Mitmenschen als „Spiegel“ bedarf … Armselig? Ist dies so? – Elias Canetti und Harry Meyer wären nicht sie selbst, wenn sie’s dabei beließen. Der Dichter relativiert seine Erkenntnis über das Wesen der Bäume in einem – wenn auch zeitlich früher entstandenen – Aphorismus wie folgt: „Er war ein Berg und barst. Er war ein Baum und stürzte. Er war ein Löwe und verzagte.“ Mit anderen Worten: er tat exakt das Gegenteil von dem, was man von ihm erwartete, und was man ihm unterstellte, daß es sein Wesen grundlegend und hauptsächlich bestimme. Und genau hier liegt die eigentliche „Seelen“verwandtschaft zwischen dem Baum Canettis und demjenigen Harry Meyers: er wächst – im wahrsten Sinne des Wortes! – über sich hinaus; er bleibt er selbst, und wird gleichzeitig mehr als das! An solch „baumischem“ Wesen wiederum kann sich der Mensch orientieren: der Baum entblättert sich, er entledigt sich in gewisser Weise seiner selbst, damit er um so mehr Lebenskraft und Energie in den „neuen“ Baum stecken kann. Der Mensch kann nicht völlig nackt sein (zumindest in unseren Breiten stürbe er dann), jedoch vermag er sich seiner Rollen und Konventionen zu entkleiden. Harry Meyers Baum ist kahl, fokussiert und zentriert auf die geballte Kraft in seinem Wurzelstock – und er steht sinnbildlich dafür, daß sich das Risiko des „neuen Laubes“ lohnen kann, daß es einen Wert an sich darstellt, etwas hervorzubringen, ohne genau zu wissen und zu kalkulieren, was dem Hervorgebrachten in der Zukunft wohl noch so passieren wird. Der Baum kann nicht ausschreiten. Der Baum schlägt Wurzeln – Mensch, halt ein und bleib stehen!