Schwarze Flocken – Weiße Finsternis

von Brigitte Herpich

An diese Dichterworte – von Paul Celan das eine, von Adalbert Stifter das andere – fühlt sich der Betrachter erinnert beim Anblick von Harry Meyers Schneebildern.

Prallt er doch in der Anschauung mit voller Wucht auf das Wesentliche des Phänomens „Schnee“: auf seine Ambivalenz, auf etwas Trügerisches, das sich unter der glatten Oberfläche verbirgt. So wird die weiße Reinheit zum Leichentuch, das alles Licht und alles Leben absorbiert und in die Schwärze des Todes überführt; und der nicht enden wollende Schneefall beraubt den Menschen, den er einhüllt, am Ende jeder Orientierung. Gleichzeitig deutet die kalte Schneedecke an, daß unter dieser Oberfläche die Glut nur um so feuriger zu lodern vermag; bei Meyer fast beiläufig – aber dadurch um so einprägsamer! – angedeutet durch vereinzelte Tupfen sanfter Röte. Und noch auf eine andere Art und Weise führt der Schnee den Menschen in die Irre: im Gegensatz zum Wasser, das sich augenscheinlich nicht mit Händen greifen läßt, scheint er mehr Festigkeit zu besitzen – versucht man jedoch, ihn festzuhalten, schwindet er und läßt uns nur seine Kälte zurück, die uns in die Finger beißt, und – als der Frosthauch der enttäuschten Erwartung – mit klammen Fingern nach der Seele greift. Meyers frühe Naturbilder sind, jedes einzelne, ein Universum aus Farbe – die jüngst entstandenen Schneebilder dagegen bilden die Welt einem Zimmer ähnlich ab, das nur mit den notwendigsten Einrichtungsgegenständen versehen ist: den Elementen in ihren verschiedenen Erscheinungsformen – das Notwendige, welches nichts weniger als das Existentielle ist.

hiberna 05