Rede zur Ausstellungseröffnung
von Nils Ohlsen
Das Erleben des Originals spielt im Falle von Harry Meyer eine besonders große Rolle. Sind seine Bilder doch keine zweidimensionalen Flächen, sondern reliefähnliche Farbgebirge, in denen unsere Augen unwillkürlich auf die Wanderung gehen: Könnten wir uns ganz klein machen und auf der Oberfläche der Bilder herumspazieren, so würden wir auf gewaltige Landschaften stoßen: die Oberflächen gleichen Hügeln, Bergen, Tälern, zerklüfteten Canyons, Wüsten oder Lavaausbrüchen. Die Bilder – besonders diejenigen – kleineren Formates animieren uns geradezu, die Bildstruktur nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den Händen zu ertasten.
Das Grundelement seiner Bilder ist der stets gut sichtbare einzelne Pinselstrich, der sich nie der gegenständlichen Form unterordnet, sondern stets selber eine autonome, plastische Setzung bleibt. Zugleich organisch und konstruktiv fungiert er im Bild sowohl als Gerüst wie auch als Bewegungselement. Resultat des Malprozesses sind optische Sensationen von gestischer Kraft und expressiver Qualität: Die widerstreitenden Farbmassen treffen an Verwerfungslinien aufeinander, mischen sich / falten sich zu Graten auf / scheinen organisch zu wachsen und sich zu Formkonglomeraten zu verschachteln, die nur noch bedingt etwas mit der sichtbaren Wirklichkeit der Landschaft zu tun haben. Sichtbares und Unsichtbares können sich im Bild vermischen oder gar die Rollen tauschen: so macht der Künstler etwa in der Gruppe der so genannten „Regen-Bilder“ die herab fallenden Regentropfen in breiten Farbbahnen als materielle Verbindung zwischen Himmel und Erde sichtbar. In ähnlicher Weise stellen in anderen Bildern Bäume oder Sonnenstrahlen eine konstruktive Verbindung zwischen Erde und Himmel her. Harry Meyer scheint beim Malen einer Landschaft auf der Suche nach etwas zu sein, das sich in ihrem Inneren befindet. Etwas, was man als die unsichtbaren Kraftlinien oder die konstruktiven Elemente der Natur bezeichnen könnte. Immer wieder verweisen seine Werke auf Regen, Wind, Energie, Licht, Blitz, Wolken, also auf immaterielle, wenngleich mächtige Phänomene der Natur. Der studierte Architekt sucht nach den Konstruktionslinien einer Landschaft und spürt ihren unsichtbaren Energieflüssen nach. Malen bedeutet für ihn ein lustvolles Umkreisen, Aufbrechen und erneutes Zusammensetzen des Motivs. Dabei steht für ihn nicht das Statische des Gegenstandes, sondern sein Werden, seine Bewegung und Veränderung im Vordergrund. In seinen Landschaften wird die subjektiv erlebte Naturerfahrung zum eigentlichen Bildinhalt. Die Bilder lassen den Betrachter die der Natur zugrunde liegenden unsichtbaren Kräfte geradezu physisch spüren. Diese Kräfte – die verheerenden Naturkatastrophen der letzten Jahre haben es überdeutlich gezeigt – können zerstörerisch und tödlich sein. Andererseits bilden sie jedoch auch die Grundlage des Lebens auf unserer Welt. In Harry Meyers Bildern ist Natur nie nur schön oder gar idyllisch. Stets trägt sie den Keim ungerichteter Kraftausbrüche und das Potenzial zerstörerischer Kräfte in sich, die einerseits bedrohlich sind, andererseits Faszination ausüben. Auch in der Werkgruppe der Porträts bzw. den „Köpfen“, wie der Künstler sie nennt, vollzieht sich eine Umformung der sichtbaren Wirklichkeit.
Harry Meyer sucht in seiner Kunst nicht nach dem spektakulären Thema, der ungewohnten Perspektive oder der innovativen Technik – ihn fasziniert hingegen der immer wieder neue Umgang mit dem Bekannten. Die rund 40 Arbeiten der heute zu eröffnenden Ausstellung kreisen um „nur“ zwei Themenkomplexe: die Landschaft und das Porträt. Zwei der – wenn nicht die – klassischen Themen der abendländischen Malerei der letzten Jahrhunderte schlechthin. Landschaft und Porträt sind für Harry Meyer motivische Ausgangspunkte für eine Malerei, die uns auf eine Reise in die Vorstellungswelt des Künstlers nimmt. Gerade die Beschränkung auf diese zwei Themen belegt den Erfindungsreichtum des Künstlers und die Tragfähigkeit seiner Bildkonzeptionen. Das eigentliche Abenteuer besteht bei Meyer nicht in der Suche nach dem Motiv, sondern in der kreativen Auseinandersetzung mit ihm. Hier verselbständigen sich etwa ein Baum vor dunklem Himmel oder die Mimik eines Gesichts zu Gewittern expressiver Gesten oder gewaltigen Farbstrudeln. Meyer formt das Relief der Landschaft seiner oberschwäbischen Heimat aus einer dick aufgetragenen Farbmasse. Dass das organisch-materielle Wachstum der Farben die Bildfläche dennoch nicht in ein farbstrotzendes Chaos verwandelt, erreicht der Künstler, indem er an einer perspektivischen Grundordnung festhält: Die oftmals weiten Landschaftspanoramen werden stets aus der Distanz wiedergegeben. Im kraftvollen Widerstreit der Farben bleibt der Horizont dabei stets eine feste Bezugsgröße. Bei einer Reihe von Landschaften fallen die exakten Bezeichnungen des gemalten Ortes auf: Titel wie „Spielfeld“ oder „Rohrmoos“ geben den Hinweis, dass diese Werke unmittelbar vor der Natur entstanden sind. Würde man dem Künstler beim Malen dieser Werke über die Schulter blicken, so ließe sich jedoch feststellen, dass der gemalte Bildraum dem gesehenen Naturraum nur bedingt entspricht. Meyers Auseinandersetzung mit der Natur erschöpft sich bei Weitem nicht im passiven Aufnehmen der Sehdaten, sondern beinhaltet vielmehr deren aktive Umformung.