Harry Meyer - Malerei

von Brigitte Herpich

„Harry Meyer – Malerei“ heißt die hier gezeigte Ausstellung; nicht „Harry Meyer – Landschaft“; nichts-destoweniger prägen des Künstlers zum Teil großformatige Landschaftsgemälde den Eindruck, den das Gezeigte hinterläßt, nachhaltig. Aus diesem Grunde möchte ich mit dem Thema „Landschaft“ meine Ausführungen beginnen.

Landschaft malen – warum? „Eine Landschaft beschreibt und kommentiert sich selbst“, heißt es in einem Essay; und in der Tat kann jedermann hinausgehen und selbst schauen. Ich lasse an dieser Stelle den US-amerikanischen Philosophen Edward Casey zu Wort kommen, der sich – als Philosoph wohlgemerkt, nicht als Kunsthistoriker – intensiv und über manche Fachgebietsgrenze hinweg mit dieser Fragestellung auseinandergesetzt hat. Casey geht von der Faktizität aus, von der Tatsache, daß Menschen seit vielen Jahrhunderten Landschaft malen – sie tun es einfach, und er versucht eine erste Antwort: .„Landschaftsgemälde [haben] die entschieden nicht-praktische Funktion, uns dabei zu helfen, die der Natur selbst inhärente Schönheit und Erhabenheit wertzuschätzen.“ – Das ist ein Anfang; und gab es da nicht eine Aussage des Künstlers Harry Meyer über seine Arbeit? „Ich male nicht Landschaft“, sagt er, „ich male Natur“, und weist uns damit selbst den Weg, der von der Darstellung des Berges, des Hügels, des Feldes, des Baumes (sämtlich Bild-Titel) weiterführt zu einer Visualisierung energetisch-phänomenologischer Prozesse. Tatsächlich malt Meyer auch Regen, Licht, Wind, ja sogar Energie (ebenfalls sämtlich Bild-Titel). Diese Differenzierung Landschaft – Natur scheint wichtig; lassen wir jedoch zunächst noch einmal Casey sprechen: „Anstatt zu versuchen, einen bestimmten Grund dafür zu finden, warum wir Landschaft darstellen, … sollten wir viel eher fragen, ob es so etwas wie nichtdargestellte Landschaft überhaupt gibt“, sagt er. Und fährt fort: „Es gibt sicherlich nicht dargestellten Raum, was große Bereiche der Erde mit einschließt“, und jetzt folgt das Wesentliche des Zitats: „als etwas, das den Menschen von allen Seiten aktiv umgibt, übersteigt Landschaft den Spielraum eines jeden wahrgenommenen Objektes. Indem sie sich an alle körperlichen Sinne richtet und an deren synthetische Einheit, ist Landschaft panperzeptuell. [perzeptuell = die Wahrnehmung und das Wahrgenommene betreffend] So betrachtet, wird die Landschaftsdarstellung zum … Problem. Wie kann man einem solch komplexen Phänomen wie der Landschaft nun darstellerisch gerecht werden? Wie soll man darstellen, was schwer faßbar und doch zugleich allgegenwärtig ist, ein Ganzes ist, und außerdem nicht nur von einem einzigen Sinn wahrgenommen, sondern von der Gesamtheit aller Sinne?“

Ziehen wir hier ein simples Zwischenfazit: Landschaft malen scheint nicht nur wichtig, schwierig scheint es auch noch! Und wieder ist die Ausgangsfrage da: Warum dann? Ich schließe, wiederum mit Casey: „Das Mittelglied zwischen Erde (ich ergänze: auf ihr steht der Mensch, ist er „geerdet“) und Welt ist die Landschaft. … die Landschaft [ist] die lebende und gelebte Oberfläche eines Körpers, nämlich des Körpers der Erde. Sie ist das Wie des Erscheinens der Erde, wenn diese sich unserem Blick und unserem Erspüren, unserem Erfassen entblößt“ – dieses Wort ist wichtig, weil es auch auf Verletzlichkeit verweist! Fortsetzung Casey: Landschaftsbilder – und ich sage: insbesondere diejenigen von Harry Meyer – „geben ihren (gemeint ist die Erde) impliziten und verborgenen Charakter wieder und erreichen … eine … Wahrheit, in der die Verborgenheit der Erde in die offene Lichtung (Bildtitel „Licht“!) der Welt befördert wird. Letzten Endes ist es die Landschaft, die all die verschiedenen Orte, die unser Leben verbinden, trägt und konfiguriert.“ (Zitat Ende). „Konfiguriert“ bedeutet im übrigen „gestaltet, an unsere Bedürfnisse anpaßt“.

Dieser von Casey entworfene, sehr universelle Begriff von Landschaft erklärt endlich, warum Harry Meyer – um sein Schaffen geht es hier – Landschaft malt: Landschaft ist etwas Elementares, d. h. etwas für den Menschen Grundlegendes, von geradezu existentieller Bedeutung! Es spielt keine Rolle, ob sie zu malen schwierig ist – es muß einfach sein! Meyer hat es sich erkämpft – und er malt die Elemente (Wasser, Erde, Feuer – in Form explodierender Sterne – und Luft als Himmel mit Wolken) ebenso wie ihre atmosphärischen Präsenzen: Licht, Wind; in den „Hiberna“-Bildern das Kalte; sogar Stille strahlt hervor und umfängt den Betrachter; und etwas, das manche als „fluidum“ bezeichnen – Meyer’s Bildtitel „Flow“ kommt nicht von ungefähr! – als eine Essenz von höchster Dichtigkeit und Feinheit gleichermaßen; für andere ist es eine Art kosmisches Prinzip, woran jegliches, was existiert, Anteil hat, vom Ursprung und Ausgang alles Existierenden bis zu dessen Ende.

Da im Rahmen dieser Ausstellung auch Harry Meyer’s jüngster Katalog „Hiberna“ vorgestellt wird, möchte ich speziell zu seiner Werk-Kategorie der Schnee,- Winter- und „Kalt“-Bilder noch ein paar vertiefende Worte sagen – ein paar mehr finden Sie in den Textbeiträgen des erwähnten Kataloges. – Worin nun besteht das Faszinosum von Schnee? Auf zwei Punkte möchte ich mich beschränken, die meines Erachtens für den Künstler jedoch von entscheidender Bedeutung sind: erstens: Schnee ist vergänglich, kaum da, schon wieder weg, jedenfalls in unseren Breiten. Gerade die Wahr- nehmung des Transitorischen aber, des stetig Veränderlichen in der Natur, fordert und formt den Maler besonders, denn dieses Transitorische wird durch Ruhe erfahrbar – das ist nur scheinbar paradox; Konzentra-tion und Gelassenheit, so schwierig sie miteinander vereinbar sein mögen, gelten nicht umsonst als eine der vielleicht tragfähigsten Erkenntnishaltungen.

Zweitens: Schnee ist gefrorenes Wasser – also eine andere Erscheinungsform derselben (universellen) Wirklichkeit; er hat besondere Eigenschaften: ein spezifisches Verhältnis zum Licht zum Beispiel. Schnee reflektiert das Sonnenlicht, intensiviert dessen Strahlen bis hin zur Blendung; mit anderen Worten, thematisiert den Zusammenhang von Licht und beschienener bzw. sichtbar gemachter und gesehener Welt – wir erinnern uns an Casey! Harry Meyer interessiert sich für das Licht; auf geradezu frappierende Weise spiegelt seine Darstellung von Licht, sein Umgang mit dem Licht, der Stellenwert, den er ihm einräumt, vieles von dem wider, was sich bereits in der Philosophie des Hochmittelalters bei Robert von Grosseteste (um 1170 – 1253), dem Theoretiker des Lichts, findet: Licht sei ein Körper von größter Feinheit – aber ein Körper eben; bei Meyer wird diese Körperlichkeit präsent, erlebbar, greifbar, in Lichtbündeln, Lichtsträngen, Lichtspeeren, Lichtkeilen, welche die Erde „belichten“. – Des weiteren Grosseteste: das Licht verbreite sich durch Ausgießen, durch ein Ausfluten gleichsam, es vermehre sich durch Verschwendung, und sei das eigentliche Wesen der Farbe. Betrachten Sie Harry Meyers Bild „Licht“ von 2007, ein größeres Querformat, um diese Aussagen zu verifizieren. Auch ein weiterer Aspekt wird erhellt und leuchtet ein (ich bewege mich bewußt im Wortfeld): Licht kann etwas Aufwühlendes haben, etwas aktiv zersetzendes, formuliert unser Gewährsmann Casey: „Anstatt durchflutend zu erhellen, also eine konstruktive und bestärkende Rolle einzunehmen, dekonstruiert es die von ihm angestrahlten Objekte. Das Ergebnis ist aufwühlend, wörtlich verstanden: Der Naturraum wird in eine urzuständliche Aufgewühltheit zurückverwandelt“. Es schließ sich der Kreis: Harry Meyer als der Maler des Elementaren.

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Abschließend bleibt mir, einige kürzere Ausführungen zu den „Köpfen“ anzufügen. Nicht, weil ich sie vor- sätzlich stiefmütterlich behandeln wollte, sondern weil mit der Bedeutung, die der Landschaft zukommt für den Menschen – und für diesen wiederum stehen die „Köpfe“ ein – bereits Wesentliches dargelegt worden ist.

Das Gesicht, so Reinhard Olschanski in seiner Abhandlung „Maske und Person“, spiele bei der Wahrnehmung des Anderen eine zentrale Rolle. Der Blick suche an den Gesichtszügen und –ausdrücken nach einem Haltepunkt. Bereits Georg Christoph Lichtenberg habe darauf hingewiesen, daß „die unterhaltsamste Fläche (wir erinnern uns an Erdoberfläche, Erde, Landschaft!) auf der Erde für uns … die vom menschlichen Gesicht“ sei. Und Gernot Böhme (Essays zur neuen Ästhetik, 1995, hier zur Physiognomik) konstatiert: „Das Gesicht in seinem inneren Zusammenhang sowie im Zusammenspiel mit dem Körper und den äußeren Gegebenheiten hat einen Anmutungscharakter, ihm eignet ein atmosphärisches „Eindruckspotential“. Dieses Potential ist für die Wahrnehmung einer Person von besonderer Bedeutung.“ – So weit, so gut – nur: Harry Meyers „Köpfe“ haben kein Gesicht! Der Künstler vollzieht den „Gesichts-Verlust“ – aus welchem Grund?

Machen wir uns zunächst folgendes klar: ein Kopf ohne Gesicht, ohne Fixpunkte, ohne Anker, um es einmal so zu sagen, ermöglicht zwei Betrachtungsweisen: Wir können das sehen, was er zeigt; oder wir können erkennen, daß er etwas nicht zeigt (bzw. „sehen“, was er nicht zeigt). Der Kopf – ich beziehe mich im Folgenden auf Richard Weihes Habilitationsschrift „Paradoxie der Maske“ – werfe eine Grundfrage der Wahrnehmung auf: Sehen wir die Sache, wie sie ist – oder sehen wir etwas, das wir der Sache selbst quasi aufgesetzt haben, weil wir genau das sehen wollen? Ein zwangsläufiges Ergebnis solchen Auseinandersetzungsprozesses sei die Selbst-Hinterfragung, oder, wie es woanders heißt: „wer nichts sieht, sieht sich selbst“.

Harry Meyer unternimmt genau dies: er zwingt uns in die Auseinandersetzung. Er malt den „Kopf“, der für den Menschen als solcher steht, in über-individueller, und somit gleichmachender Häßlichkeit; in über-individuellem und somit allgemein-menschlichem Ausgeliefertsein an Vergänglichkeit und Tod; er formt den schrundigen, den verletzten, den verstümmelten, den mißgestalteten Körper – und respektiert dadurch das Menschliche an sich! Die Ent-Individualisierung fokussiert unseren Blick auf das Wesentliche, auf die essentielle conditio humana.

Oben war, im Zusammenhang mit der Darstellung von Landschaft, von universeller Weltsicht die Rede. Ich hatte Edward Casey zitiert; und es gibt einen anderen US-amerikanischen Philosophen und Schriftsteller – auf den sich im übrigen Casey in seinen Arbeiten verschiedentlich beruft –, nämlich Ralph Waldo Emerson (er lebte von 1803 – 1882). Er erlangte bereits im 19. Jahrhundert bemerkenswerte Erkenntnisse über die Natur und das Verhältnis des Menschen zu ihr. „Natur“ ist auch eines seiner Werke betitelt; die erste Ausgabe erschien 1836, weitere folgten. Darin schreibt er über Kunst: „So ist die Kunst eine durch die Schaffenskräfte des Menschen hindurchgegangene Natur“, und der Dichter – ich denke ersetzen zu können mit „der Maler“ – „bekleidet Staub und Stein mit Menschlichkeit und formt sie um in Bilder der Vernunft. Die Imagination kann man definieren als den Gebrauch, den die Vernunft von der materiellen Welt macht.“ Man beachte den Terminus des „Hindurchgehens“ – es gibt bei Harry Meyer eine Werkreihe mit dem Titel „Transit“.

Seiner Ausgabe der „Natur“ von 1849 hatte Emerson folgenden Sinnspruch vorangestellt: „Eine feine Kette zahlloser Ringe | verbindet die nächsten und fernsten Dinge; der Blick liest Omen, wohin er auch fällt, die Rose spricht alle Sprachen der Welt; und durch die Spirale der Formen auf Erden | windet der Wurm sich, zum Menschen zu werden.“

Hier kommt eine ganzheitliche, in eigentlicher Bedeutung „universelle“ Welt- und Natursicht noch einmal zusammengefaßt zum Ausdruck – eine Weltsicht, die sich auch in Harry Meyer’s Bild-Universen findet.